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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Vincenti, Carl Ferdinand von: Wiener Frühjahr-Ausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0386

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WIENER FRÜHJAHR-AUSSTELLUNGEN <Ö^~

über die sachlichen Fakultätsgrenzen hinaus,
tiefer fassen. Ein grünblauer Nachthimmel,
der Weltengrund mit buntem Sterngeflimmer.
Ein Zug traumverschlungener Menschenleiber
strebt schemenhaft in die Höhe; eine weisse
Schulter blitzt, der prächtig gemalte Rücken
eines Mannes, eine überschlanke weibliche
Hüfte treten hervor, menschliche Gliedmassen
links am Bildrand; unten die schreckhaft ab-
gemagerte Gestalt eines nackten Greises, der
sich in Vernichtungsangst das Antlitz mit den
Händen bedeckt. Rechts ein schlafendes Kind,
dann die grüne Weltkugel und ein grün ge-
scheiteltes Sphinxenhaupt, dem Flimmergrunde
enttauchend. Ganz unten hart über dem
Bildrand ein wunderbar durchleuchteterFrauen-
kopf: das Wissen. So das Bild. Ein Welt-
traumstück, weit ab von jeder Schablone, mit
starken malerischen Qualitäten. Neu in der
Auffassung jedenfalls, Begriffsmalerei von ver-
blüffender Schulunbekümmertheit, welcher
nicht allein der Durchschnittsbesucher ziem-
lich hilflos gegenüberstehen, sondern wovon
auch der gebildete Beschauer und willige Ge-
niesser sich einigermassen befremdet fühlen
mag. Doch wenn auch nur wenige mit dem
verwegenen Künstler den Sprung aus der her-
gebrachten Allegorie in den modernsten Symbo-
lismus zu machen vermögen oder wünschen,
das Recht des Künstlers auf eigene Auffassung
bleibt bestehen. „Verstehen Sie das Bild? Ich
verstehe es nicht". So konnte man hören.
Kommen dann einige kritische Wortführer,
giessen durch Ueberschwänglichkeit Oel ins
glimmende Feuer und der Streit lodert hell auf.

Die Gelehrten nehmen Stellung. Ein Dutzend
Hochschulprofessoren, derRektoran derSpitze,
setzen eine Protestpetition an die oberste
Unterrichtsbehörde, Bestellerin des Bildes, in
Umlauf, welche um die Ausschliessung des
angeblich in den Renaissancerahmen des Hoch-
schulfestsaales nicht passenden, in Auffassung
und Darstellung verfehlten Gemäldes bittet.
Achtzig Professoren unterschreiben sich. Ein
unzweifelhaft vortrefflich abgefasstes Begleit-
schreiben präcisiert ihren Standpunkt,welcher —
alle vorschnellen Verdächtigungen, vom Lex
Heinze-Geist erfüllt zu sein, entkräftend —
sich als ein rein ästhetischer giebt und das
KuMT'sche Werk nur unter solchen Gesichts-
punkten als einen „verunglückten Versuch"
erklärt. Die Secession bleibt nicht müssig.
Sie gegendemonstriert mit einem Lorbeer-
kranze am angegriffenen Bilde, dessen Schleife
den obigen Ver Sacrum-Wahrspruch trägt.
Dann gehen die Secessionisten zum Unter-
richtsminister, dessen Sympathien für die neue
Kunst bekannt sind. Herr v. Härtel ent-

scheidet: Abwarten, bis das Gemälde an Ort
und Stelle; vorher lässt sich nichts sagen.
Mittlerweile ist die „Philosophie", welche das
meist nicht sehr philosophisch veranlagte Wien
eine volle Woche in Atem gehalten, bereits
in Paris eingetroffen, wo ihr der vorangeeilte
Ruf einer „Verfolgten" vielleicht Herzen ge-
winnt. Die Frage der Berufenheit oder Nicht-
berufenheit des Professorenprotestes gehört
nicht hieher, wohl aber muss das Recht der
freien Kritik jenem der freien Kunst gegen-
über allemal wieder gewahrt werden. Fast
übersehen wurde im Lärm, dass Klimt noch
drei kleine, entzückende Landschaften aus-
gestellt hat.

Um Klimt gruppieren sich noch andere
diesmal Umstrittene. So der Katwyker Malaie
Toorop mit seinen formensymbolistischen
Schnörkelphantasien und ungewöhnlichen
Weibern, Meister Stuck mit seiner „Wilden
Jagd", Slevogt mit seinem Dreibild vom
„Verlorenen Sohn", das unverdient hart be-
urteilt wird, Zwintscher mit seinem wunder-
lichen Faunenbilde „Sturm" und einem glotzi-
gen Leutnantsporträt, endlich selbst der Pariser
Pointiiiist Signac, an dessen Strand- und
Hafenbilder, selbst nach Rysselberghe, die
wenigsten sich gewöhnen können, während
die vornehm, symbolistisch durchtränkte
Kunst Fernand Khnopff's bereits auch hier
ihre Gemeinde hat. Unbestrittenen Erfolges
erfreuen sich von Gästen: Dettmann, Kalck-
reuth, Kuehl, Leibl, Dill, Haberaiann, bei
den Kennern unbedingt L. v. Hoffmann's
sonnige Kunst. Unter den mir neuen Dett-
mann's entzückt mich besonders „Die Sonne".
Kalckreuth's eindrucksvolles Dreibild „Das
Leben währet siebzig Jahre", so rührend in
seiner Kontrastberedtsamkeit, war sofort ver-
kauft. Auch Skarbina und Leistikow finden
Beifall, ebenso der melancholische Bretone
Cottet. Unter den Einheimischen steht Josef
Engelhart mit gesund Wienerischem (Blasel
auf seiner Kolosseumbühne) und seinem „Vaga-
bunden" in erster Reihe; Jettel's feinge-
stimmte Landschaften, neue Prachtaquarelle
vom greisen Alt, gemässigt Secessionistisches
von Moll, Nebelstimmungen von Bernatzik,
Märchenmalerei ä la Vogeler von Friedrich
König, Variationen „in Weiss" von List, eine
weibliche Aktstudie von Auchenthaller bil-
den eine stattliche Auslese. Fesselnde Bild-
nisse bieten der Breslauer Wiener Spiro,
ein Neuer, dann der Engländer Lavery mit
typisch Weiblichem, der Münchener Knirr
mit einer eleganten Gräfin und Otto Friedrich
mit einem pikanten Frauenkopfe. Um den
plastischen Anteil an der Ausstellung machen

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