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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Muthesius, Hermann: Zeichenunterricht und "Stillehre"
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0506

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-8-S£> ZEICHENUNTERRICHT UND „STILLEHRE" <^-^

Einen ähnlichen Unterricht kennen wir lerischen Bedürfnisse zu nähern, ist etwa
schon von den höheren Töchterschulen und damit zu vergleichen, dass einem erlösungs-
den Fakultativ-Stunden her, die hier und da bedürftigen Gemüte, das nach den Tröstungen
ein Altphilologe unter dem Titel Kunst- der Religion dürstet, ein Vortrag über die
geschichte an Gymnasien giebt. Diese Art verschiedenen auf derErde verbreitetenReligio-
Unterricht ist ungefähr das einzige Mittel, nen gehalten, und schliesslich eine Wertung
das man bei uns für geeignet hält, dem dar- derselben gegeben würde. Ungefähr so, wie
niederliegenden Kunstverständnis auf die ein solcher Vortrag dem menschlichen Er-
Beine zu helfen. Man nähert sich dazu der lösungsbedürfnis entgegenkommen würde,
Kunst von einem systematisierenden Stand- ungefähr so kommt der Geschmacks- und
punkte aus, man schachtelt ihre Erzeug- Stilunterricht dem Bedürfnis der künstle-
nisse in fertig bereit gehaltene Fächer rischen Ausbildung des Menschen nach,
ein. Und vor allem, man lehrt dem Un- Ja es unterliegt kaum einem Zweifel, dass
wissenden fertig geprägte Urteile. Kann er ein solcher Unterricht, statt zu nutzen, eher
diese dann nur geläufig nachsprechen, so Schaden anrichtet. Erstens unterdrückt er
glaubt die Schule ihre Aufgabe erfüllt zu unter Umständen das Restchen von Freude,
haben. Er braucht nur zu lernen: das und das der gänzlich naive Mensch, sozusagen
das ist gut, das und das ist schlecht, und er der Naturbursche in der Kunst, an der oder
hat das Gebiet des künstlerischen Unterrichts jener Liebhaberei noch haben mag. Er darf
erledigt. es jetzt nicht mehr äussern, er hat das ihm

Diese Art und Weise, sich dem unzweifelhaft gelehrte Urteil nachzusprechen. Zweitens
in der Menschenseele schlummernden künst- aber, was hat eine solche angelernte Urteils-
abgabe in der Kunst überhaupt
für Zweck? Die Kunst ist dem
Menschen wohl schwerlich dazu
gegeben, dass er Verstandes-
übungen an ihr treibt. Sie
wendet sich, ähnlich wie die
Religion, an das Gemüt, sie
hat den Vorzug, direkt zum
Herzen zu sprechen, ohne ge-
zwungen zu sein, den Umweg
über den Verstand zu nehmen.
Eine künstlerische Erziehung
hat somit auch lediglich da-
rauf auszugehen, das Herz des
Schülers für die rechte Ein-
wirkung der Kunst empfänglich
zu machen. Was thut man
aber statt dessen? Man giebt
ihm ein Einschachtelungssys-
tem in die Hand, ähnlich dem
LiNNE'schen System zur Be-
stimmung der Pflanzen. Ja,
gegen das LiNNE'sche Pflan-
zensystem hat das gegebene
Schachtelsystem noch den
einen ungeheuren Nachteil: es
ist nicht dauernd gültig. In
zehn Jahren pflegt sich heute
der Geschmack vollständig zu
ändern. Damit fällt auch der
etwa noch übrig bleibende prak-
tischeZweckeinerGeschmacks-
und Stillehre. Denn angenom-
men, ein Schüler hätte seinen
hans borchard.t Zwiegespräch Geschmack etwa zur Zeit der

Aussteilung 1900 der Münchener Secession Butzenscheibenperiodegelernt,

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