kulatur paßt in ihrem Kraftausdruck weder zu der
Funktion des Sitzens noch der des Denkens. Rodin
packt unser Gemüt durch Pathos, aber nicht unsern
Geist durch Form. Heute aber erscheint uns jedes
Kunstwerk, in dem das Gleichgewicht von Ausdruck
und Materie. Form und Zweck gestört ist. als unzu-
länglich.
Die Befangenheit Rodins gegenüber der Augen-
blickserscheinung der Natur hemmt ihn auch im
Bildnis. Zwar hat er die Poesie des Momentanen,
den Reiz des Einmaligen in dem Mädchenkopf ..Ge-
danke"" wie kaum zuvor ein Bildhauer auskosten
können, und wenn er das Lebendige eines Kopfes
durch den persönlichen Fon selbst der Haut, der
Barthaare, der Lippen, der Augenwimpern in dem
widerspenstigen Material der Bronze und des Mar-
mors virtuos vergegenwärtigt, erscheinen seine Bild-
nisse ..wirklicher"" als die Menschen selber, aber die
plastische Form verliert dabei ihre Selbständigkeit
und dient nur mehr dem Zweck der Sinnestäu-
schung. In den Bildnissen Hildebrands bleibt die
Nähe des Lebens, die Unmittelbarkeit der Natur
wie durch einen Schleier verhüllt, das Persönliche
ist nur soweit in die plastische Form aufgenommen,
als es durch diese zum Ausdruck gebracht werden
kann, dafür aber ist der vollere Charakter, das
menschlich Wesentliche einer Stirn, des Schädel-
baus, der Aufteilung des Gesichtes tiefer ausge-
schöpft, so daß die Bildnisse Hildebrands auf die
Dauer den Eindruck festhalten und durch sich sel-
ber verstärken, den die Büsten Rodins nur im ersten
Moment erwecken. Rodin beunruhigt uns durch
seinFemperament, Hildebrand befestigt unser Auge
und unsern Sinn durch die Sicherheit seiner Form-
auffassung. Die Bildnisse Bodins sind Skizzen, die
Büsten Hildebrands wie der prächtige KopfBöcklins
sind Denkmäler der Persönlichkeit. Rodin wollte im
flüchtigen Schein des Lebens das Leben selber er-
fassen und enträtseln. Hildebrand aber behielt im-
mer den sozialen Zweck der Kunst, die Verständi-
gung mit den Menschen im Auge, was ihn abhielt,
sich dem Genuß und der subjektiven Zuchtlosigkeit
des Könnens zu überlassen. Weil Hildebrand der
Plastik die formale Eigenart wieder zurückgab, ver-
mochte er auch die Zusammengehörigkeit der drei
Künste Architektur, Malerei und Bildhauerei wie-
der herzustellen und ihr Verhältnis untereinander
nach ihrem Aufgabenkreis und ihren formalen V\ ir-
kungsmitteln organisch zu ordnen.
Der große, betäubende Einfluß Rodins auf die im-
pressionistische deutsche Plastik der Lehmbruck.
Haller, Kolbe vermochte die Disziplin des künstle-
rischen Erbes von Hildebrand nicht mehr zu durch-
brechen. Die von Hildebrand erweckten Form- und
Raumerkenntnisse wurden für die gesamte neuere
Plastik verpflichtend, denn wenn die deutschen Bild-
hauer Rodin bewunderten, so haben die Nachfolger
Rodins in Frankreich, Maillol und Despiau. in ihren
säulenartig geschlossenen, in der Form kernhaft ge-
bundenen Gestalten, ohne es zu wissen, dem plasti-
schen Kanon Ilildebrands zum Durchbruch verhol-
fen. so sehr und so früh hatte Hildebrand die
zwangsläufige Logik der Entwicklung erkannt und
durch sein Wirken vorbereitet. Wenn dann die Pla-
stik in den surrealistischen Spielereien der Archi-
penko. Lipschitz, Belling. Brancusi entartete, die die
plastischen Formen zu schmieden, zu schlossern und
zu schreinern begannen, so hat Rodin in jenen völ-
lig unplastischen, den menschlichen Körper zur
krampfhaften Geste verzerrenden Erfindungen des
Ikarus, der Sphinx, der Kentaurin, des Idols, der
Jahreszeiten der aformalen Moderne vorgearbeitet
und zum Feil den literarischen Fetischismus der
heutigen slawisch-uneuropäischen Pariser Plastik
heraufbeschworen.
Die Lebendigkeit Rodins und die klare, objektive
Form Hildebrands zu vereinigen, ist Georg Kolbe
gelungen, der in seinen spirituellen tonreichen Ge-
stalten Natur und Geist zu der höhern Einheit einer
schöpferischen Empfindung verbunden hat. Die
neuere deutsche Malerei hat keine Persönlichkeit
aufzuweisen, die die Ideen und Anregungen von
Hans von Marees so sinnvoll zu neuen Ausdrucks-
formen weiterentwickelt hätte, wie Kolbe diejeni-
gen von Hildebrand, aber die Malerei konnte als das
subjektivere, empfindlichere Instrument den Stür-
men der Zeit weniger widerstehen und wurde vom
Anker ihrer künstlerischen Gebundenheit beinahe
losgerissen. Die Plastik gibt das, was eine Gegen-
wart als ihr Zeitloses über sich erheben möchte, die
Malerei aber das nächste Erleben der Menschen. Bei
Kolbe kommt die Natur zu ihrem Recht wie bei
Maillol. aber sie strömt nur durch seine Gestalten
wie durch einen durchsichtigen Körper, die Materie
öffnet sich für die stillen Stimmen des Raumes und
etwas Lnendliches ruht in den gelösten Formen.
Die starre Einzelgestalt ist in der heutigen Plastik
überwunden, jede Figur erscheint wie ein Sinnbild
des Räumlichen. Damit ist die Plastik heute auf
einen Punkt gebracht, wo alle Elemente einer gro-
ßen Kunst in ihr vorbereitet sind. Über die Gestal-
ten Kolbes zittert die verhaltene Scheu erwachender
Blüten hinweg. Der Ernst der Nacht liegt über
ihnen. Wenn aber der frische Morgenwind weht,
werden sie sich öffnen.
Das Wesen der Kunst Kolbes in ihrem Verhältnis
zur Wirklichkeit bezeichnet Rudolf Binding in sei-
nem gehaltvollen, im Berliner RembrandtA erlag
erschienenen Buche mit den folgenden erkenntnis-
reichen Worten: Kolbe ist nicht durch die ewig
offene Für bequemer Wirklichkeit gegangen, die
angeblich alles enthält, sondern durch die eigent-
lich mit Marmor verschlossene Pforte, die nur in
einer einzigen, idealen, d. i. einer höchsten Gestalt
des Menschen in ewiger Wiederkehr Einlaß ge-
währte. Wo und wie aber in der Kunst diese wieder-
kehrt oder erstmalig erschien oder erscheint — ob
im Hermes des Praxiteles, ob im Bamberger Reiter
oder in Georg Kolbes Gestalten —: sie wird stärker
sein als diese vielgerühmte ..YVirklichkeit", in der
die Menschen die Wahrheit suchen und aus der sie
sich immer von neuem bemühen zu leben.
44
Funktion des Sitzens noch der des Denkens. Rodin
packt unser Gemüt durch Pathos, aber nicht unsern
Geist durch Form. Heute aber erscheint uns jedes
Kunstwerk, in dem das Gleichgewicht von Ausdruck
und Materie. Form und Zweck gestört ist. als unzu-
länglich.
Die Befangenheit Rodins gegenüber der Augen-
blickserscheinung der Natur hemmt ihn auch im
Bildnis. Zwar hat er die Poesie des Momentanen,
den Reiz des Einmaligen in dem Mädchenkopf ..Ge-
danke"" wie kaum zuvor ein Bildhauer auskosten
können, und wenn er das Lebendige eines Kopfes
durch den persönlichen Fon selbst der Haut, der
Barthaare, der Lippen, der Augenwimpern in dem
widerspenstigen Material der Bronze und des Mar-
mors virtuos vergegenwärtigt, erscheinen seine Bild-
nisse ..wirklicher"" als die Menschen selber, aber die
plastische Form verliert dabei ihre Selbständigkeit
und dient nur mehr dem Zweck der Sinnestäu-
schung. In den Bildnissen Hildebrands bleibt die
Nähe des Lebens, die Unmittelbarkeit der Natur
wie durch einen Schleier verhüllt, das Persönliche
ist nur soweit in die plastische Form aufgenommen,
als es durch diese zum Ausdruck gebracht werden
kann, dafür aber ist der vollere Charakter, das
menschlich Wesentliche einer Stirn, des Schädel-
baus, der Aufteilung des Gesichtes tiefer ausge-
schöpft, so daß die Bildnisse Hildebrands auf die
Dauer den Eindruck festhalten und durch sich sel-
ber verstärken, den die Büsten Rodins nur im ersten
Moment erwecken. Rodin beunruhigt uns durch
seinFemperament, Hildebrand befestigt unser Auge
und unsern Sinn durch die Sicherheit seiner Form-
auffassung. Die Bildnisse Bodins sind Skizzen, die
Büsten Hildebrands wie der prächtige KopfBöcklins
sind Denkmäler der Persönlichkeit. Rodin wollte im
flüchtigen Schein des Lebens das Leben selber er-
fassen und enträtseln. Hildebrand aber behielt im-
mer den sozialen Zweck der Kunst, die Verständi-
gung mit den Menschen im Auge, was ihn abhielt,
sich dem Genuß und der subjektiven Zuchtlosigkeit
des Könnens zu überlassen. Weil Hildebrand der
Plastik die formale Eigenart wieder zurückgab, ver-
mochte er auch die Zusammengehörigkeit der drei
Künste Architektur, Malerei und Bildhauerei wie-
der herzustellen und ihr Verhältnis untereinander
nach ihrem Aufgabenkreis und ihren formalen V\ ir-
kungsmitteln organisch zu ordnen.
Der große, betäubende Einfluß Rodins auf die im-
pressionistische deutsche Plastik der Lehmbruck.
Haller, Kolbe vermochte die Disziplin des künstle-
rischen Erbes von Hildebrand nicht mehr zu durch-
brechen. Die von Hildebrand erweckten Form- und
Raumerkenntnisse wurden für die gesamte neuere
Plastik verpflichtend, denn wenn die deutschen Bild-
hauer Rodin bewunderten, so haben die Nachfolger
Rodins in Frankreich, Maillol und Despiau. in ihren
säulenartig geschlossenen, in der Form kernhaft ge-
bundenen Gestalten, ohne es zu wissen, dem plasti-
schen Kanon Ilildebrands zum Durchbruch verhol-
fen. so sehr und so früh hatte Hildebrand die
zwangsläufige Logik der Entwicklung erkannt und
durch sein Wirken vorbereitet. Wenn dann die Pla-
stik in den surrealistischen Spielereien der Archi-
penko. Lipschitz, Belling. Brancusi entartete, die die
plastischen Formen zu schmieden, zu schlossern und
zu schreinern begannen, so hat Rodin in jenen völ-
lig unplastischen, den menschlichen Körper zur
krampfhaften Geste verzerrenden Erfindungen des
Ikarus, der Sphinx, der Kentaurin, des Idols, der
Jahreszeiten der aformalen Moderne vorgearbeitet
und zum Feil den literarischen Fetischismus der
heutigen slawisch-uneuropäischen Pariser Plastik
heraufbeschworen.
Die Lebendigkeit Rodins und die klare, objektive
Form Hildebrands zu vereinigen, ist Georg Kolbe
gelungen, der in seinen spirituellen tonreichen Ge-
stalten Natur und Geist zu der höhern Einheit einer
schöpferischen Empfindung verbunden hat. Die
neuere deutsche Malerei hat keine Persönlichkeit
aufzuweisen, die die Ideen und Anregungen von
Hans von Marees so sinnvoll zu neuen Ausdrucks-
formen weiterentwickelt hätte, wie Kolbe diejeni-
gen von Hildebrand, aber die Malerei konnte als das
subjektivere, empfindlichere Instrument den Stür-
men der Zeit weniger widerstehen und wurde vom
Anker ihrer künstlerischen Gebundenheit beinahe
losgerissen. Die Plastik gibt das, was eine Gegen-
wart als ihr Zeitloses über sich erheben möchte, die
Malerei aber das nächste Erleben der Menschen. Bei
Kolbe kommt die Natur zu ihrem Recht wie bei
Maillol. aber sie strömt nur durch seine Gestalten
wie durch einen durchsichtigen Körper, die Materie
öffnet sich für die stillen Stimmen des Raumes und
etwas Lnendliches ruht in den gelösten Formen.
Die starre Einzelgestalt ist in der heutigen Plastik
überwunden, jede Figur erscheint wie ein Sinnbild
des Räumlichen. Damit ist die Plastik heute auf
einen Punkt gebracht, wo alle Elemente einer gro-
ßen Kunst in ihr vorbereitet sind. Über die Gestal-
ten Kolbes zittert die verhaltene Scheu erwachender
Blüten hinweg. Der Ernst der Nacht liegt über
ihnen. Wenn aber der frische Morgenwind weht,
werden sie sich öffnen.
Das Wesen der Kunst Kolbes in ihrem Verhältnis
zur Wirklichkeit bezeichnet Rudolf Binding in sei-
nem gehaltvollen, im Berliner RembrandtA erlag
erschienenen Buche mit den folgenden erkenntnis-
reichen Worten: Kolbe ist nicht durch die ewig
offene Für bequemer Wirklichkeit gegangen, die
angeblich alles enthält, sondern durch die eigent-
lich mit Marmor verschlossene Pforte, die nur in
einer einzigen, idealen, d. i. einer höchsten Gestalt
des Menschen in ewiger Wiederkehr Einlaß ge-
währte. Wo und wie aber in der Kunst diese wieder-
kehrt oder erstmalig erschien oder erscheint — ob
im Hermes des Praxiteles, ob im Bamberger Reiter
oder in Georg Kolbes Gestalten —: sie wird stärker
sein als diese vielgerühmte ..YVirklichkeit", in der
die Menschen die Wahrheit suchen und aus der sie
sich immer von neuem bemühen zu leben.
44