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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 50.1934-1935

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Tafel
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Moshage, Heinrich: Gedanken zur Porträtplastik
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Hellwag, Fritz: Kann Kunstkritik helfen?, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16482#0187

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wie das Gesicht! Goethe erkannte in genialer Schau,
daß alle Schädelteile allein Abwandlungen der Wir-
belknochen sind, daß die große Form alle Teile be-
stimmt und bedingt. Dieses Gesetz gilt es deutlich zu
machen, dadurch ordnet sich dann die verwirrende
Fülle der Einzelbeobachtungen, das Unwesentliche
wird weggelassen, das Wesentliche betont. Dann
erkennen wir z.B., wie ein Ohr vom ganzen Schädel-
bau abhängig ist, wie mit der Form und den Linien
des Jochbogens Mundform und Mundlinien zu-
sammengehen, das Stirnprofil den Winkel des Nasen-
beines und der Oberlippe bedingt, Schläfenkante,
Backenknochen und Unterkiefergrenze gleiche Form-
und Bichtungselemente haben, daß der Schnitt der
Augen mit den Linien der Nasenflügel zusammen-
geht, wie die Asymmetrie des Kopfes ganz gesetz-
mäßig im kleinsten Formteil wiederholt wird.
Durch die Verdeutlichung der rhythmischen Ver-
wandtschaft aller Formen und Linien wird das Bild-

werk zu einer organischen Einheit, die das betrach-
tende Auge immer mit Sicherheit, ja bald mit Leich-
tigkeit erfaßt — jener Einfalt, die Zeichen des Ge-
lungenen und Ewigen ist. Denn jedes Ersterkennen
ist schwierig und schmerzlich, alles Wiedererkennen
aber leicht und beglückend.

Stößt eine Bildnisplastik so zum Wesentlichen des
Menschlichen und Formalen vor, dann ist sie von
einer gültigeren ,.Ähnlichkeit" als alle verblüffende
Oberflächenbeobachtung je zustande bringt. Der
ganz fraglose Wert einer Kunstschöpfung ist aber
auch durch diese gültigere Ähnlichkeit noch nicht
bedingt. Wenn der Genius des Schöpfers die harte,
ja mathematisch-bestimmbare Gesetzmäßigkeit einer
Gestalt zugleich erfährt als rhythmische Melodie
— wo Gesetz und Gesang ein und dasselbe sind —
erst dann entsteht ein Bildnis (kein Porträt), letztlich
unausdeutbar und vollendet wie das Menschenhaupt
selbst!

Kann Kunstkritik helfen?

(Fortsetzung von Seite 164)

Er sagte ferner: „Kunstgeschichte kennen, gilt
als gleichbedeutend mit Kunst verstehen! Und
eben das ist falsch, und das Laienpublikum kommt
in ein ganz schiefes Verhältnis zur Kunst, indem
es die Vorteile seines natürlich - unhistorischen
Standpunktes preisgibt, ohne doch den anderen
Standpunkt, den fachmännisch-historischen, gewin-
nen zu können." Es urteile nach auswendig ge-
lernten Merkmalen der Stile und sei stolz darauf,
nach ihnen, möglichst schnell, seine Feststellungen
treffen zu können, um weiter zu gehen: es über-
nehme sich quantitativ, um schließlich — gar
nichts gesellen zu haben. Um das Übel nicht grö-
ßer zu machen, sprach Wölfflin auch gegen den
Plan, die Kunstgeschichte in den Mittelschulen als
Fach einzuführen. Es sei bei der Jugend so viel zu
leisten nach Seite der bloßen Anschauung, des
Sehenlernens, daß man auf einen Abriß der Kunst-
geschichte zu verzichten alle Ursache hätte. Aber
die Einführung von Anschauungsstunden fände er
gut, wo das Auge angeleitet werde, Formen zu
sehen, Licht, Schatten, Farben. Solchen Unterricht
solle man an Hand von Kunstwerken geben. Schon
Alfred Lichtwark hatte naive Kinder vor Bilder ge-
führt und sie zunächst das Gegenständliche, das ja
dem „Laien11 immer mit Recht zuerst das Wesent-
liche bleiben wird, erkennen lassen, um sie dann
weiter über die Absichten und Mittel der Künstler
mit aller Vorsicht (um nicht eine neue Oberfläch-
lichkeit und Nötigung zum „Urteilen'1 zu erwek-
ken!) aufzuklären, soweit er damit den Weg zum
persönlichen Kunstgenuß öffnen konnte.
Wenn der Kunstkritiker auf solche vorsichtige
Weise verfährt und dabei nie vergißt, daß auch er

ehedem sich führen ließ und ein „Laie11 war, dann
wird es ihm gelingen, in seiner freiwilligen Gefolg-
schaft die „Stilverkrampfung", von der Adolf Hit-
ler sprach, zu lösen; und er selbst wird der Gefahr
entgehen, dem „Starrkrampf des Intellekts", dessen
sich jener Dadaist in irrsinnigem Stolz gerühmt
hat, zu verfallen. Man wird ihm zugestehen, daß
er, vermöge längerer und reicherer Erfahrung, die
Quellen des Kunstgenusses zu finden und an Irr-
wegen vorbeizuführen versteht, wenn man fühlt,
daß er selbst ein Genießender blieb, und wenn es
ihm — eine selbstverständliche aber nicht immer
leicht zu erfüllende Voraussetzung — gelingt, in
einfacher, klarer und überzeugender Art von sei-
nem Erlebnis Rechenschaft abzulegen.
Daß auch im hilfsbereiten Mittlertum ein „Ur-
teilen" liegt, entspricht dem Wesen der Aufgabe.
Kritik muß an buntschillernden Abwegen und an
den Sackgassen der bequemen Rezepte vorbeifüh-
ren: gleichzeitig muß sie, ohne darum die Rückver-
bindung zur Gefolgschaft zu vernachlässigen, den
Mut haben, weit voranzueilen, wenn es gilt, Offen-
barungen jener Spitzenkünstler zu erschließen, die
nach dem Hitlerwort „traumwandlerisch sicher der
Stimme ihrer tief innersten Erkenntnis folgen".
Solche vermittelte Offenbarungen bleiben manchen
naturgemäß anfänglich unverständlich; wenn sie
aber dereinst Allgemeingut geworden sind, dann
wird „offenbar", daß der Künstler sie vorahnend
bereits in kristallener Klarheit geformt hatte.
Mit den Künstlern muß auch der Kritiker „wa-
gen" und wie jene das Vertrauen der Öffentlichkeit
beanspruchen. Wenn er der Kunst ehrlich dient,
dient er dem Volk.

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