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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 50.1934-1935

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Deusch, Werner R.: Ein Familienbild von Philipp Otto Runge, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.16482#0240

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Ein Familienbild von Philipp Otto Runge. Von Dr.Werner R. Deusch

Der Versuch, das zahlenmäßig beschränkte, zeitlich
auf wenige Jahre zusammengedrängte Lebenswerk
Philipp Otto Runges um ein bisher unbekannt ge-
bliebenes, noch dazu besonders durch seinen Um-
fang hervorstechendes Gemälde zu vermehren, be-
darf einer stilkritischen Begründung. Vor allem,
wenn es sich um eine Arbeit handelt, die wir zeit-
lich in die noch dunklen malerischen Anfänge des
Schaffens des Meisters verweisen zu müssen glau-
ben, um eine Schöpfung, die zwar im Extrakt be-
reits die für Runge charakteristischen späteren Stil-
merkmale vorwegnimmt oder doch in noch unaus-
gereifter Form aufweist, jedoch nicht die klar und
eindeutig in die Augen springenden Züge zeigt wie
das vor wenigen Jahren von Ludwig Justi mit
glücklicher Hand dem Oeuvre des Kleisters einver-
leibte Gemälde der ..Mutter mit Kind" in der Ber-
liner Nationalgalerie. Handelte es sich in diesem
Falle um ein Werk der reifen Schaffensperiode, die
durch eine größere Anzahl Bilder belegt ist und uns
heute das Bild des Meisters umreißt, so in dem
unsrigen um eine Arbeit, die zwar in der geistig-
psvchologischen Auffassung und einem völlig neu
zutage tretenden Lebensgefühl den Gestalter der
späteren Werke ahnen läßt, aber in ihrer Mischung
von stoßkräftigen und selbstwilligen Neuerungsver-
suchen mit tastendenLngeschicklichkeiten. in jenem
Nebeneinander von Fortschrittswillen und zögern-
der Gebundenheit, von Sprödigkeit und lebhafter
Wärme das tvpische Produkt eines Anfängers dar-
stellt, das mit Recht im kunstgeschichtlichen Sinne
als ..Jugendarbeit'l bezeichnet werden darf. Denn
vielfach sind es gerade Elemente, die dem flüchtigen
Beschauer gegen eine Zuschreibung des Familien-
bildes an Runge zu sprechen scheinen — dem Be-
trachter, der einen bestimmten Begriff von ..Mei-
sterschaft" auf das gesamte Schaffen gerade dieses
ungleichmäßig arbeitenden genialischen Autodidak-
ten angewandt wissen will —. die unser Bild durch
klare Analogien mit dem bekannten Werk des Ham-
burger Malers verknüpfen.

Das hier abgebildete Familienbildnis (172X154 cm)
ist kürzlich aus einer älteren Berliner Sammlung,
deren Herkunftsquellen leider verwischt sind, in
den Besitz eines Hamburger Sammlers übergegan-
gen und offenbarte erst nach der Reinigung von
alten Schmutz- und Firnisschichten seine wirkliche
Schönheit. Versuche, die Namen der Dargestellten
zu identifizieren, schlugen bis jetzt fehl: es bestellt
jedoch die Möglichkeit, daß die Rückseite des auf
eine feine Leinwand gemalten Bildes, das bei einer
späteren Restaurierung auf eine grobe Leinwand
aufgezogen wurde, noch eine alte Inschrift trägt.
Die Tracht der Dargestellten weist auf ein Entste-
hungsdatum um 1800 oder wenige Jahre später hin,
der Charakter des Bildes auf Norddeutsch]and. Für
eine solche Zeit stellt die Komposition des Bildes in
der deutschen Malerei beinahe einzig da: kein Zug

verbindet diese im klassischen Sinne zu einer unlös-
baren Gruppe verbundenen Gestalten mit der
deutschen Malerei vom Ausgang des 18. Jahrhun-
derts: wenn hier überhaupt nach Parallelen ge-
sucht werden könnte, so höchstens in der englischen
Malerei des ausgehenden Dixhuitieme. auf deren
Einfluß auf das zeitgenössische deutsche Schaffen,
vor allem Norddeutschlands, u. E. bis jetzt über-
haupt noch zu wenig geachtet wurde. Auch im Far-
bigen ist ein betontes Abrücken von der Auffassung
des späten 18. Jahrhunderts zu verzeichnen: der
gelbbraune Anzug des älteren Knaben, der dunkel-
blaue Frack und die grauen Hosen des Vaters, das
kirschrote Kleid der Mutter und der mauve-farbene
Anzug des Jüngsten sind zwar in der von tiefem
Braun zu lichtem Grün sich aufhellenden Land-
schaft durch die Wärme des Gesamttons zu einer
farbigen Einheit verbunden, jedoch ermangelt der
Gesamteindruck so sehr jeder ..Malerischkeit" im
Sinne des 18. Jahrhunderts, daß man beinahe von
Lokalfarben zu sprechen geneigt wäre. Schließen
schon solche Momente die Autorschaft eines älteren
Meisters aus, so noch mehr die psvchologische Erfas-
sung der Dargestellten, die in eine neue Zeit hin-
überweist. Ein inniges Naturgefühl, ein unbefange-
nes Eingehen auf Einzelheiten, eine frische und un-
mittelbare Unbefangenheit in der Porträtdarstel-
lung, eine persönlich geartete Formauffassung und
eine neue Innigkeit in der motivischen Erfassung
deuten gerade auf den Meister, der am schärfsten
um diese Zeit den Bruch mit der Vergangenheit
vollzog, ein neues Lebensgefühl erweckte: Philipp
Otto Runge.

Auf ihn weisen auch die stilistischen Merkmale der
Komposition und der formalen Einzeldurchbildung.
Die Art. wie die Gruppe in vielfachen Gelenken
in sich verknotet ist. wie die Hände des Sohnes, des
Vaters und der Mutter, breit und im Sinne des
18. Jahrhunderts ungelenk und unelegant, wie der
in den Vordergrund geschobene Arm der Frau die
Gruppe verbinden und zu einer Einheit verschmel-
zen, findet sich immer wieder als Charakteristikum
späterer Rungescher Konipositionskunst: man ver-
gleiche besonders aus der Frühzeit die Federzeich-
nung der ..Heimkehr der Söhne" (1800) oder spä-
ter das Gemälde „Wir Drei" aus dem Jahre 1806.
wo dieseMerkmale am deutlichsten ausgeprägt sind.
Auch die Durchbildung der Köpfe zeigt bis in Ein-
zelheiten Wesenszüge, die in den späteren Werken
erst ihre volle Ausbildung erfahren: der weiche,
weitgeschwungene Mund ist sanft zwischen die wul-
stigen Hügel des Kinnes und der Oberlippe einge-
bettet, die Ohren schwer und fleischig gebildet, die
Größe der Augen noch durch aufgesetzte Lichter
an den Lidern erweitert (wie bei den späteren Bild-
nissen) , der Ausdruck von einer lyrischen Melan-
cholie überschattet.

(Fortsetzung Seite 228)

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