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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Vischer, Robert: Peter Paul Rubens
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0288

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Sprechweise), sondern auch manche Lebensformen,
Gewohnheiten, Interessen und gewisse Charakter-
eigenschaften: ein stofflich derbes Naturell und
einen sehr entschiedenen und ausgeprägten Sinn für
das Brauchbare. Aber sie bestehen, wie die Mehr-
heit der Holländer, aus Franken, ihre Sprache ist
ein medcrfränkischer Dialekt, und sie würden da-
her, wenn hierin die Grösse unseres alten Reichs
für die Kunstgeschichte restituiert werden soll, doch
besser im Zusammenhang der westdeutschen, rhein-
ländischen Sphäre betrachtet. Sie sind lebhafter,
impulsiver als ihre nordöstlichen Nachbarn; ihr
Wesen ist voller entwickelt, kräftiger beschwingt
von Temperament, geschickter und flinker, mehr
auf das unmittelbare, schon in sich selbst befriedigte
Schauen angelegt und darum auch mehr für die
Kunst begabt.

Hiezu kommt noch bei den Vlaemen ein Zug
zum Ausgreifen und breiten Sichausladen, zum
üppigen Schwelgen, festlichen Jubeln, zum Ueber-
treiben, Prunken und Stolzieren. Namentlich den
Antwerpnern sagt man das nach, und sie stehen in
diesem Ruf nicht nur bei den Holländern, sondern
auch bei den übrigen Belgiern.

Es ist ein Verdienst des gesamten niederlän-
dischen Volks, den Bildwert des Natürlichen und
Individuellen zuerst bestimmter erfasst und in Ge-
mälden höchsten Ranges vor das Auge der Welt
gestellt zu haben. Die Vlaemen van Eyck begründen
mit der schatzartig funkelnden Kostbarkeit ihrer
Altartafeln den nordischen Realismus.

Nach einer Blüte, die mehr als ein Jahrhundert
währt, entartet diese Schule in ihren Extremen.
Ihr Natursinn gerät in bizarres Uebermass, und da
ihm die anatomische wie die perspektivische Kennt-
nis und überhaupt die innere Mündigkeit fehlt, um
die Gestalten in freie und zugleich bildgerechte
Aktion zu bringen, so wird er nun das Gegenteil
seiner selbst, nämlich unnatürlich.

So löst sich diese Kunst schliesslich in sich selber
auf, und die italienische siegt. Ihr giebt man sich
nun ohne jeden Rückhalt hin, fast alles wandert
nach Rom. Urbilder sinnlicher Kraft und Liebe,
zu plastischem Vollschein erquollen, schwungvoll
gewendet, in kühnstem Durch- und Gegeneinander
zusammengefügt als integrierende Bestandteile eines
einheitlichen Ganzen, das ist es, worauf die nieder-
ländischen „Italisten" ausgehen. Für das Höchste
gilt ihnen die Linienrhythmik menschlicher Körper-
schönheit. In den Reiz, den die tastende Ein-
fühlung an ihren Rundungen erfährt, verlieben sie

sich bis zur Verblendung gegen alles andere. Viele
modellieren nun die Formen bei einseitigem Stuben-
licht und werden stumpf gegen die Feinheiten der
luftumflossenen Farbenwelt, gegen die heimische
Natur, gegen die Wirklichkeit überhaupt. Gelingt
ihnen nur der marzialische oder erotische „Kontra-
post" aufwogenden Bahnen des Blicks: alles übrige
gilt ihnen nichts dagegen; und so wird ihre Kunst
eine hohle Künstelei, worin sich virtuose Gross-
manier und täppische Roheit zu widerlichem Bund
vereinen.

Indessen wir können das Vorbarocko der Italisten
als ein notwendiges Uebergangsstadium betrachten,
als eine Turnschule, worin sich die Zukunft vor-
bereitet. Nur hat es etwas lange Dauer, und die
volkstümlich frischen Keime, die zugleich hiemit
in den Gebieten der Sitten-, Landscharts- und Bild-
nis-Malerei hervordrängen, sie kommen allzuschwer
dagegen auf.

Nun aber, zu Anfang des 17. Jahrhunderts er-
hebt sich auf dem Boden des Italismus in sieg-
reicher Stärke ein neuer Natursinn. Und dieser
Aufschwung erfolgt seit dem Regierungsantritt des
Erzherzogs Albrecht. Nach langem Darben und
Brachliegen wird ersetzt und hergestellt, was zer-
stört und verwüstet war. Auf den rauchenden
Brandstätten und öden, zerstampften Feldern des
Kriegs rührt sich nun wieder die Lebensfreude und
lechzt nach Sättigung. Der äussersten Anspannung
aller Kraft folgt erleichternd eine pathologische
Lachlust, eine tollende Ausgelassenheit, die sich's
nun vollauf schmecken lässt. Die noch vom Kampf
eratmende Brust geniesst mit doppeltem Schwelgen.

Es ist die Zeit, in der das habsburgische Regiment
und mit ihm die katholische Kirche in Belgien
triumphiert. Während sich Holland befreit und
den Protestantismus festhält, wird Belgien verwälscht.
Und nun soll hier auch die Kunst mit gebieterischer
Majestät und sinnerregendem Pomp dem agitato-
rischen Geiste der Gegenreformation dienen. Zu-
gleich wird die dekorative Prachtliebe der Zeit be-
günstigt durch den Hof, der sich mit festlichen Auf-
zügen, Triumphbögen, Schauspielen huldigen lässt.
So nimmt die belgische Kunst, gleich der italieni-
schen und im Gegensatz zur holländischen, ein ver-
hältnismässig repräsentatives und ebendeshalb auch
dekoratives Gepräge an. Aber dass sie dabei so
stürmisch vorgeht, erklärt sich wohl nicht nur ans
der katholischen-Opposition gegen die scheinkarge,
ja kunstfeindliche Strenge der protestantischen Puri-
taner, sondern auch aus der vlaemischen, salisch-

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