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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Heilbut, Emil: Die Sammlung Linde in Lübeck, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0326

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die der blasierte Mensch an Naturwesen
hat. Wir haben so viel Akademiker ge-
sehen und so wenig Naturwüchsiges unter
ihnen; so viele Begabungen und so wenig
Begabungen, die gross waren: so dass wir
entzückt sind, diesen Norweger zu
finden, der so naiv wie Gauguin malt
und zeichnet und Dinge ausdrückt, die
„von Menschen nicht gewusst oder nicht
bedacht, durch das Labyrinth der Brust
wandeln in der Nacht." Uns alten Kunst-
menschen, uns pedantischen, pädago-
gischen Alexandrinern, ist dieser natur-
wüchsige, fabelhaft begabte, unkulti-
vierte Wildfang eine Erscheinung, mit
der wir liebkosend plaudern.

Aber wir würden das Bild, das wir
von Munch zu zeichnen versuchen, sehr
unvollständig lassen und der Genialität

dieses Menschen Unrecht tun, wenn wir eine merk- ebenso tadellos in der Machart, die gegenständlich
würdige Gruppe seiner Arbeiten unerwähnt Hessen: interessanter sind. Daist erstens die wundersame
die von jedem Gesichtspunkt bewunderungswürdig Radierung einer den Kopf auf die Hand stützenden

MAX LIEBERMANN, IN DER DÜNE

SAMMLUNG LINDE IN LÜBECK

sind.

Da sind zunächst die zwei Radierungen mit dem
Problem: Lichteinfall durch ein hohes Fenster. Das
eine Mal steht ein kleines Mädchen an einem grossen
Fenster und blickt hinaus, das andre Mal sitzt
ein Mann neben einem solchen Fenster auf einem
Divan und es geht nichts vor, als dass Licht aus
dem Fenster auf den Fussboden dringt. Das Licht
und das Dunkel sind mit einer solchen Delikatesse
auf beiden Radierungen ausgeführt, dass jeder Lieb-
haber, — es stehen hier nicht die raffinierten allein,
wir sprechen von allen Liebhabern, — entzückt
sein muss. Und dann gehören zu diesen Arbeiten
eine Anzahl von radierten Porträts.

Es gebührt sich, dass man unter ihnen das Bild-
nis desjenigen Mannes an die Spitze rückt, der mit
intuitivem Verständnis einer der ersten in Deutsch-
land war, die Munch entgegenkamen: Dr. Seidel aus Köpfen: eine bejahrte Frau, im Profil Watts könnte
Braunschweig, der auf so tragische Weise ums Leben in dieser Erscheinung eine Fortsetzung in höherem
kam, Hess Munch schon in den erstenneunziger Jahren Lebensalter für seine marchioness of Granby er-
nach Braunschweig kommen; von ihm und niemand blicken.

anderem wollte er sich sein Porträt radieren lassen. Man müsste diesen radierten Porträts auch das

Dieses Porträt ist auch sehr gut geworden; es ist lithographierte Selbstporträt Munchs anfügen, das
völlig einwandfrei und zart, mit besonderer Fein- in jeder Beziehung ein Meisterwerk ist.
heit ausgeführt. Dennoch hat Munch nicht über
den Gesichtstypus hinauskommen können, der viel- ft

leicht etwas zu viel Bequemlichkeit zeigte — und ....... ........

doch nicht genug laisser aller — und nicht So ist die Sammlung Linde. Sie hat ausser den

recht dankbar war. Es giebt andere Porträts, in diesem und dem vorigen Aufsatz genannten

Frau mit durch die Hand beschattetem linken Auge.
Das Blatt hat etwas von einem Schabkunstblatt des
i 8. Jahrhunderts. Ersten Ranges! Dann ein Porträt
eines jungen norwegischen Dichters, sehr gut im
Ausdruck. Dann das Bildnis eines Herrn mit fun-
kelnden Augen hinter seinen Brillengläsern — un-
glaublich, wie sehr diese Augen ohne Convention
dargestellt sind, so sehr der Kopf auch verlockte,
illustrativ, cliche'haft wiedergegeben zu werden.
Dann die geniale Radierung eines Mannes von
schärfstem Gesichtsausdruck, im Profil gesehen.
(Diese Radierung hat Munch im Dunkeln gemacht,
er konnte nichts mehr in dem Cafe sehen, in dem
er sie anfertigte. Dabei ist die Radierung von einer
Präcision, die unglaublich ist.) Dann ein schwarz-
äugiger Mädchenkopf, sehr schön gezeichnet. Und
endlich der vielleicht schönste unter allen diesen

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