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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Meier-Grefe, Julius: Camille Pissarro
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0473

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Nach Mirbeau, dem Freunde des Verstorbenen, der
die Vorrede für den Katalog der grossen Ausstellung
schrieb, die vor kurzem viele Werke Pissarros bei
Durand Ruel vereinte, sollte man es glauben. Er
nennt ihn einen der grössten Maler dieses Jahr-
hunderts und aller Jahrhunderte. Die Zeit Pissarros
ist an sehr grossen Malern reich und kann sich mit
allen Zeiten, soweit überhaupt verglichen werden
kann, an Intensität besonderer Werte messen. Aber
nur das Einzelne entscheidet diesen hohen Titel,
einzelne Persönlichkeiten ragen gewaltig über unsere
Tage hinaus und kommen den Grossen früherer
Zeiten näher. Nicht die Epoche ist gross an Kunst,
sie ist die kleinste von allen; die Masse, die um die
Grossen lagert, ist Gemüsekunst, brave Hausmanns-
kost, nichts weniger als geeignet, auf die Nachwelt
zu kommen. Der Enthusiasmus, der den Grossen
gebührt, bedarf so grosser Kraft, dass wir nicht
unökonomisch damit verfahren und nicht jeden
gleich zu den Unsterblichen rechnen dürfen, der
mit ihnen ging und ihrer Gesinnung war. Ist
Pissarro Führer oder geht er im Gefolge? Bleibt
er bei dem Vergleich mit seinen grossen Freunden
auf ihrer Höhe? — An Stil hat es ihm nicht gefehlt.
Stil in dem Sinne besonderen Mittels. Die Aus-
stellung bei Durand Ruel brachte, trotzdem sie
glänzend gewählt war, nicht alle Seiten des Viel-
seitigen zur Geltung. Ganz fehlte das erste De-
zennium seines Schaffens, die Zeit bis 1864. Es
ist nur noch sehr wenig davon erhalten. Die meisten
Werke sind während der Belagerung von Paris, die
den Künstler in Louveciennes, einem Vorort ausser-
halb der Befestigungen, überraschte, zu Grunde ge-
gangen. Lecomte machte in seiner Biographie in
denHommes d'Aujourd'hui (Band VIII. Vanier, 18 9 0)
die Prussiens dafür verantwortlich. Duret spricht
in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz der Gazette
des Beaux Arts (Mai) von 2 — 300 verlorenen,
wahrscheinlich zerstörten Bildern.

Immerhin zeigte die Ausstellung von mehr als
170 Werken annähernd die wesentlichen Phasen
dieses reichen Schaffens. Ein ungemein bewegtes
Leben kam zum Vorschein, die Arbeit eines bis
zum Ende rastlos Thätigen, der auf allen Wegen
versucht hat, zum grössten Ausdruck seiner Art zu
gelangen, und sicher Alles gab, was er hatte. Ein
höchst sympathisches Dasein. Man sah den rüstigen
Alten mit den blitzenden Augen vor sich, denklugen
Menschen, die grosse Ehrlichkeit und-das gute,
grundgütige, harmlose Kind, das immer jung und
naiv blieb. Das Werk passt zu ihm. Es giebt kein

Bild von Pissarro, das nicht mit Recht seine Signatur
trüge. Jedes erkennt man sofort für sein Werk.
Nichts ist thörichter als ihm mangelnde Persönlich-
keit vorzuwerfen, wie es Mauclair in seinem Buch
gethan hat. Persönlich in dem Sinne, dass man
leicht dahin gelangt, ihn nicht mit Anderen zu ver-
wechseln, war er allemal. Aber das heisst ungemein
wenig. Auch diese billige Methode, künstlerische
Werke nach dem Grade ihrer Einseitigkeit zu
schätzen, ist schon recht langweiliges Gemüse ge-
worden.

Pissarro wurde am 1 o.Juli 1830 m St.Thomas,
einer dänischen Kolonie der Antillen geboren. Er
ist Mischblut wie so viele der grossen Franzosen
seiner Generation. Seine Mutter soll Creolin ge-
wesen sein wie die seines grossen Schülers Gauguin;
sein Vater Franzose; die Familie des Vaters jüdisch-
portugiesischer Abstammung. Mit ungefähr zehn
Jahren kam er nach Frankreich, wo er zum Kauf-
mann ausgebildet werden sollte. Georges Lecomte
berichtete in der erwähnten Biographie, dass der
Pensionsvater Pissarros, ein Matthieu Savary in Passy,
Zeichner seines Standes und Freund der Musen, den
Knaben in seiner Leidenschaft, nach der Natur zu
zeichnen, ermutigte und ihm die einzige Anleitung
zum künstlerischen Beruf gab. Andere Lehrer hat
Pissarro nie gehabt. Dann in dem entscheidenden
Moment, wo ihm ein Meister notgethan hätte,
nötigte ihn der Vater, den Aufenthalt in Frankreich
abzubrechen. Mit siebzehn Jahren kehrt er zu den
Eltern nach den Antillen zurück und soll nun ernst-
haft Kaufmann werden. Fünf Jahre verliert er als
Handlungsgehilfe. 1852 nimmt ihn der dänische
Maler Fritz Melbye, der Bruder des bekannten
Marinemalers, mit nach Caracas in Venezuela.
1855 kommt er, fünfundzwanzig Jahre alt, nach
Paris zurück. Damals war Manet noch bei Couture.
Pissarro ist der Aelteste der berühmten Plejade,
drei Jahre älter als der Maler des Dejeuner, vier
Jahre älter als Degas. Renoir, Sisley, Monet, Cezanne
sind ungefähr gleichaltrig und zehn Jahre jünger
als Pissarro. Dieser hat also die ganze Bewegung
an erster Stelle mitgemacht, ja ist ursprünglich den
anderen weit voraus gewesen. Er hatte schon ein
festes Verhältnis ztx den beiden grössten Matadoren
der Zeit, als die anderen noch auf der Schule waren.
Die enge Anlehnung der Generation von 1870 an
die 1830er ist in seinem Werke am deutlichsten.
■ Zwei Künstler begeisterten damals die Jugend:
Corot, der Dichterfürst unter den Alten, Courbet,
der grosse Revolutionär, das grüsste Versprechen

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