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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 2.1904

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Meier-Grefe, Julius: Camille Pissarro
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https://doi.org/10.11588/diglit.3550#0483

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den drei äpfelpflückenden Frauen; es wirkt grau
trotz der lebhaften Farbe. Zwei Jahre darauf malt
er ungefähr dasselbe Motiv verkleinert (heute bei
A. Bureau) nach dem Prinzip des Neo-Impressio-
nismus. Die Hülfe, die Pissarro Seurat und Signac
dadurch zu teil werden Hess, dass er sich ihrer
Methode kurze Zeit unterwarf, verdient dankbare
Anerkennung. Er gab den mutigen Eroberern zur
rechten Zeit eine moralische Ermunterung und
nötigte wenigstens einen kleinen Teil des Publikums,
ihre Versuche ernsthaft zu nehmen. Er selbst hatte
wenig davon. Seurat und Signac brauchten ihre
Technik und Seurat suchte ganz ruhige, nur sche-
matisch bewegte Flächen für seine Monumental-
malerei. Signac aber, der wirkliche Begründer des
Neo-Impressionismus im engeren Sinne, war für
diese Technik geboren. Er brachte genau die eigen-
tümliche Anlage mit, die sich in den reinsten Farben
wohlfühlte und den Grad von Rhythmus, der genau
die Grenzen der Teilungstechnik auszufüllen ver-
mochte. Seurat steht dem Verfahren ganz objektiv
gegenüber, seine Bedeutung liegt in nichts weniger
als seinem oft handwerksmässigen Punktieren.
Signac — später Cross — hat wirklich aus dem
Verfahren eine neue Malerei gemacht und ein
so biegsames Mittel daraus gewonnen, dass das
Theoretische, der mechanische Zwang und alles,
was die Gegner solcher Theorien schrecken könnte,
vollkommen zurücktritt. Davon war bei Pissarro
keine Rede. Er teilte die Ueberzeugung von der
Richtigkeit der Henryschen Folgen ebenso aufrichtig
wie z. B. heute die jüngsten deutschen Nachfolger
Signacs, aber kam ebensowenig wie sie in ein per-
sönliches Verhältnis zu dem neuen Mittel. Man
hat von keinem seiner Bilder dieser Zeit den Ein-
druck, der bei Signac entscheidet, dass es nur mit
diesem Verfahren möglich wäre, dass alles, was es
giebt, nicht auf anderem Wege noch besser erreicht
werden könnte. Signac hat nicht seine Technik,
er steckt in ihr drin, arbeitet, lebt mit ihr wie
Monet mit der seinen oder wie Manet mit der seinen
lebte. Pissarro zog sich diese Technik an wie vorher
und nachher verschiedene andere; sie hängt sehr oft
leblos über seinem Gestaltungsvermögen und hindert
es an der ewig jugendlichen Schöpfung glücklicher
Maler. Schon 1888 wird der Weg wieder auf-
gegeben. Pissarro empfand die Technik Signacs
wie etwas Mechanisches und suchte sie für seinen
Gebrauch zurecht zu stutzen. Er teilte noch den
Fleck, ja er hat die kleine Touche fast immer bei-
behalten, aber mischte die Farbe. Dabei kam er

zuweilen der Spielereien Henri Martins nahe wie
in der Landschaft St. Charles bei Durand Ruel (1889)
und noch schlimmer in manchen späteren Bildern,
die, trotzdem sie garnicht kunstgerecht geteilt sind,
den Eindruck peinlich mechanischer Arbeit hervor-
rufen. Zuweilen wird ein der Phantasie entkleideter
Monticelli in harten, hellen Farben daraus. Das
Bild der Sammlung Pontremoli, die Frau am Wasser
(1895), sieht auffallend porös aus, als sei die
Leinwand durch einen seltsamen Prozess in ein
grobkörniges, dickes Gewebe verwandelt. Die Vor-
gänge auf solchen Bildern sind ganz indifferent,
sie bewegen sich nicht, man glaubt merkwürdige
Bildungen zu sehen, Zustände, nicht das wunder-
bare, nie stillstehende Leben. Auch die Zeichnung
Pissarros wirkt ähnlich. Was dem Maler Corot
und Constable gaben, wurde Millet dem Zeichner.
In allen Figuren Pissarros steckt etwas von dem
Schöpfer des Semeur. Aber das Uebernommene
wird nur selten bereichert. Auch Monet hat Millet;
er öffnete die feste Form des grossen Vorgängers
und that Sonne hinein. Es sprüht gewaltig von
Licht in Monets Gemälden, aber durch den Flimmer
spürt man monumentale Umrisse, riesige, sicher
gebaute Massen. Pissarros Atmosphäre ist zäher,
und doch sind die Dinge darin nicht in der not-
wendigen Ruhe. Er grenzt oft an das Formlose.
Man sieht wohl, dass seine Körper Arme und Beine
haben, aber sie bewegen sich nicht. So ein Bauer
bei Millet steht wie eine Welt, noch auf viel mehr
als nur seinen Beinen. Er wächst aus der Erde
heraus. Bei Pissarro steht er nur auf den paar Metern
der Bildfläche. Nur wo die Figuren in ganz kleine
Formate plaziert sind, geben sie das Beste vom
Geiste Millets. Diese fächerförmigen Bildchen,
meistens Aquarelle, mit ein paar Menschen, einem
Stückchen See oder Land gehören zu den reizendsten
Dingen der französischen Malerei. Hier scheint
der alte Naturmaler freie Rhythmen zu dichten.
Vielleicht gelangen sie, weil er die Sache nicht so
ernst nahm.

Denn sonst malte er nur streng nach der Natur.
Erst 1896 zwang ihn ein Augenleiden, die Arbeit
im Freien aufzugeben. Man möchte fast das Un-
geschick segnen, denn es brachte dem Greis eine
letzte glorreiche Schaffensperiode, die, von der
ersten Zeit abgesehen, vielleicht seine glänzendste
geworden ist. Er fing an, vom Fenster des Zimmers
aus die Stadt zu malen. 1896" entstand die Serie
der Strassenbilder von Rouen, darunter das brillante
Bild mit der grossen Brücke von Rouen; 1897 und

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