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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 15.1935

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Heft 1 (Januar 1935)
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Leumer, Josef: Haltet ein mit dem Stimmenmord!
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https://doi.org/10.11588/diglit.28171#0019

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rerbildungsanstalten war es um kein Haar bcffcr. Dic
^rtichtc dicscr vcrkehrten Ausbildung stnd auch entsprc.
chcnd. 2lls Lhormeistcr, Leitcr ciner Singschulc, Leitcr
cincs Auswahlchc-rcs, stcht mir einc isjährigc Erfahrung
,ur Scitc. 2>ch wcifi, wic es mit dcn stimmlichcn Duali-
täten unscrer Lchrcr bestcllt ist. Unter 100 männlichen
Lchrcrn cincs Rreiscs sind nicht 5 Stimmcn, dic nicht
die Spuren vcrkchrtcr Bchandlung in dcr Schulc und
bcim Studium zeigcn. Nicht bcffcr wärc der Bcfund bci
dcn Ulustklchrcrn an dcn höhcren Schulen. Von dcn HA..
Ftihrcrn, dic nicht Lchrcr sind, kann nicmand vorausscycn,
dafi stc jugcndlichc Stimmcn sachgcmäß bchandcln könncn.

In 2lnbctracht dcr damit gcgcbencn Voraussetzungcn
könncn die Aussichtcn auf cinc geordnctc Pflcgc dcr
Stimmcn unserer Iungcn nicht optimistisch bcurtcilt wcr.
dcn.

Einc durchgreifendc Dcffcrung ist nur dann ;u erwartcn,
wcnn allc Lehrer und alle Iugcndführer in dcr glcichcn
Richtung zichen. Zurzcit ist cs lcidcr noch so, daß es eher
abwärts denn aufwärts geht. wir können es uns nicht
lcisten ;u wartcn, bis dic nächste Lehrergeneration (viel-
leicht mit beffcrcr Gcsangsausbildung — bis jetzt ist noch
nichts Entscheidendcs in die wcgc gelcitet) auch in stimm-
licher Hinsicht aufbaucnd wirken kann. Es gilt dem Stim-
mcnmorden sofort wirkungsvoll entgegen;utreten. Da gibt
es kcinen anderen weg, als ;u verhindern, daß weiter
vernichtet wird.

Und vcrnichtet wird so viel wertvolles Stimmgut durch
das Schreien.

warum ist das Schreien schädlich?

Ancrkannte Stimmwissenschaftler habcn nach eingehcn-
den Untersuchungen festgestellt, daß bei jedem Rind etwa
schon vom 4. Lebensjahr an ncben der Lruststimme auch
eine schwache Ropfstimme vorhanden ist. Es sind die ana-
tomischen Möglichkeiten gegeben, daß sowohl Brup- als
auch Ropfstimme er;eugt werden kann. Lruststimme ent-
steht — volkstümlich aüsgedrückt — durch Schwingungen
dcs gan;cn Stimmbandmuskels, Ropfstimme durch Schwin«
gungcn der inneren feinen Ränder der Stimmbänder. Dem-
;ufolgc ist dic Ropfstimme im Gegensatz zur Lruststimmc
fein, leise, dünn, ;art. Das unverbildete Schulkind singt
Ropfstimme, singt leise, fast dünn. von sich aus fchreit
das Lind nicht bcim Singen. Damit sind Rameraden und
Lehrer nicht ;ufrjeden. Nun beginnt das Lhorsingen, um
die Schüchtcrnen init;ureißen. wenn ein verständnisloser
Lehrer vor der Rlasse steht, beginnt das Unheil seinen
Lauf. Dcr Selbsterhaltungstrieb treibt dic Schüler da;u,
ihre Stimme nicht im Gesamtklang untergehen ;u laffen.
Iedcr will am lautestcn singen. Das gelingt mit dem
Ropfstimmechanismus nicht; das Rind muß mehr Rraft
auswenden, nimmt mehr Atcm, preßt die Stimmbänder
aufeinander, braucht also wieder mehr Rraft, um dcn
Verschluß ;u sprengen, es schreit. Der da;u notwendig gc-
wordene Stimmechanismus ist die Lruftstimme. Der
Augcnblick ist gekommen, in dem über das wohl und
wehe der jugendlichen Stimmen entschieden wird. Dic
Mehr;ahl der Er;ieher entscheidet sich für den kräftigen
Ton. warum follen nicht auch die Rinder darin das Heil
sehen! Ihnen gefällt es ja auch recht, wenn es laut geht.
Der Lehrer bedenkt nicht, welch folgenschwere anatomisch-
physiologische Veränderungen im Stimmapparat vor sich
gehen. Ein Musflel, dcr fleißig gebraucht wird, cntwickelt
sich beffer als einer, der beständig ruht. Der erstere wird

stark, wcil ihm vici Llut ;ugcführt wird, also auch viel
Vlährstoffc. Dcr Ictztcrc vcrkümmcrt wic dcr Bi;cps des
Stubenhockcrs.

wcr immcr mit Bruststimmc singt, dcr übt dcn gan;cn
Stimmbandmuskcl in scincr Längc und Dickc. wer dic
Ropfstimme vcrnachlässigt, dcr läßt auch ihr Grgan, dic
inncren Stimmbandrändcr, vcrkUmmcrn. Leidcr ist dicsc
2lrt dcs Singcns dic Rcgcl. Es wird jahrclang fast aus-
schlicßlich dic Bruststimmc gcübt und glcich;citig dic Ropf-
stiinme vcrnachlässigt; dcr Bruststimmcchanismus wird
übcrmäßig gcstärkt, dcr Ropfstimmcchanismus gcschwächt.
Dcr anfänglich schon vorhandcnc „Bruch" ;wischen den
bcidcn Mcchanismcn wird bcständig vergrößert; neben der
starkcn, stol;cn Bruststimmc steht ihre schwächlichc be-
schcidcnc Schwestcr Ropfstimmc.

Vlicmand wundcrt sich mchr, daß unter diescn Umstän-
den die Ropfstimmc nichts mehr ;u sagen hat. Die Brust-
stimmc ist Allcinhcrrschcrin geworden. Und sie blcibt cs
auch, bis sie — nicht mehr kann.

Um das ir.—14. Lebensjahr tritt der kindliche Rörper
in die Geschlechtsreife ein. Im gan;cn Grganismus gehen
bedeutsamc Verändcrungen vor sich. Zu dcn auffallendsten
gehört die Stimmreife, dic sog. Mutation.

Innerhalb des Stimmbandmuskcls finden Gewebeum-
wandlungcn von solchcm Ausmaßc statt, daß dic Rnaben-
stimmhöhe aus dem Violinschlüffcl in den Baßschlüffel
fällt. Das Gan;e ist cin natürlicher Vorgang; aber rr
voll;ieht sich in vcrhältnismäßig so kurzer Zcit, daß
während des wandlungspro;effes die innere Fcstigkcit '
des Muskelgewebcs geschwächt ist. Erst allmählich errei-
chen die Stimmbänder die normalr Ronsistenz. L» müßte D
jedem Er;ieher einleuchten, daß dirses wachstum beson- H
ders bchütet werdcn muß. An wirklichkeit geschieht wie-
der das Gedankenlose: ohne jrdr Rücksicht wird weitrr f
gcsungen, bis die Stimnir vollständig vrrsagt. Dte Stimme
ist „gebrochen". Und sie tst dei dem geübten Raubbau wjrf.
lich grbrochen, leidrr meist für immer'. ver „Vrvch" Hst M
so groß geworden, daß ih» der best« Stimmbikd«« M A
mehr wjrd übrrbrückcn können. Abrr darüber macht fich
selten ein Lehrrr Gedanke«. Di« »i«der komme« «m hr«
Schule. Der Mohr hat setae Schuidigkeit grtan, er ik««n
gehen. Später wird die Stimme schon wiedrr ksmmen.
Allerding» kommt sie wieder; abre j« einem Austand, drr
drm Besiyer keine Frrude bringt. Umfang: d Töne. Farber
grau bis schwarz. Rlang: hölzern — blrchern.

wenn dann der junge Mann von seinen Frrunden 1«
den Gesangverein mitgenommen wird, wird ein rrfahrrnrr
Lhorineistcr durchaus nicht überrascht srin über den StiMm-
befund dcs Ankömmlings. Die Maffe seines Lhore» bestcht
ja aus den glcichen Stimmruinen. Jst er ein Stimmoild-
ner, so wird er auf die Suche nach dem Ropfton, V. h.
nach der Ropfstimmc gehen und finden wird er nicht»
als ein Säuselstiinmchen. Ist er kcin Stimmbildner, so
wird er sich mit der rohen, rauhcn, ungcpflcgten Brust-
stimmc;ufricden geben.

Das künstlcrischc Ergebnis ist in beiden Fällen unbe-
friedigcnd. '

Der Grund ;u diesöm Stimmelend wurde gelegt in der
Schule, und — unsere jetzigc Iugend wird es leider er-
fahren müssen — beim Marschgesang auf der Straßc.

Drum noch einmal: Haltet ein mit dem Stim-
menmord!
 
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