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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 15.1935

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Heft 5 (Mai 1935)
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Nicklass, Elsa: Atmen tut not!
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https://doi.org/10.11588/diglit.28171#0118

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atmung wieder m die Anfangsstellung zuriickgeprellt wird.
Diescr Vorgang wird mehrfach wiederholt.

Das nachträgliche Gefühl von innerem Gleichgewicht,
Frischc, Draft und die daraus erwachsende neue Arbeits.
bcreitschaft wurdc, sogar von den Rleinsten, sofort er-
kannt und ließ stc immcr wieder stürmisch nach diesen und
ähnlichen llbungcn verlangen. Sie waren so beglückt Uber
dicselben, daß stc mir bald das Handwerk absahen, um
sich nun auch untercinandcr schwingen zu können, und be.
nutztcn die llbungen sclbständig, um sich in den Schul.
pausen fUr die Stundcn srisch ;u machen. Es gibt nun
längst >n jedcr Rlasse fUr AusfUhrung und wcjtergabe
dcr übungen besonders geeignete SchUlerinnen, die den
gehcmmteren Ramcradinnen helfen.

Wir ahnen ja gar nicht, wie gehemmt diese Rinder sind,
die wir da täglich vor uns haben. Erst derjenige, der Ge>
legcnheit hat, sie cinmal so von Mensch;u Mensch, möchtc
jch sagcn, vor sich ;u haben, wird verstehen, wic groß die
Not dieser kleinen MitbUrger ist.

Mit einigen Hemmungen sah ich selbst der ersten Sprech.
chorstundc bci den „Großen" entgegen, da ich mir sest vor-
gcnommen, sic nur mit Atemunterweisung verbunden ;u
ertcilen. Eine kritisierendc, viellcicht gar abwcisende Hal-
tung der HalbwUchsigen ließ sich hier ohne weiteres er-
warten.

wic groß war daher mcin Staunen, als man mir nicht
nur von Anfang an sachlich interessiert entgegenkam, son-
dern am Schluß der Unterrichtsstunde, die am Nachmittag
gegebcn wurde, eindringlich forderte, daß es weitergingc.
Selbstverständlich blieb ich und versuchte auf alle Fragcn,
dic man mir stellte, Antwort zu geben. Von nun an bliei>
jch wöchentlich regelmäßig eine Stunde länger, als cs
meinc Pflicht war, bei ihnen, weil sie ausdrUcklich um
diese Arbeit mit ihnen baten: „wir wollcn gern auch vor-
mittags frciwillig von -—r Uhr hierbleiben, wenn wir
nur Atemstunde haben dUrfen" odcr „Das Atmen ist das
Schönste von dcr ganzen Sprechchorarbeit."

Es war geradezu rUhrend, wie sie mir nun all ihrc Ver-
legenheit, Hemmung, Verkrampftheit schilderten. Sie wur-
den gan; srci, da sie in dcn anderen SchUlerinnen nur jhre
leidenden und bedauernswerten Mitschwestern sahen.

Sie lernten wie brave kleine Schulmädchen wieder „sich
hinsetzen" und „vom platz erheben" — mit „Ausatmung"
nämlich und mit „Einatmung". Sic legten sich hin und
richteten sich aus der Liegestellung auf, sie hoben Bänke
und trugen schwere Gegcnstände, sic lerntcn — gehen.

Und erzählten mir: „Heute haben wir vor der franzö-
sischen Stundc gcatmet, und es ging nochmal so gut; wir
waren gan; ruhig und haben uns immer mit der Atmung
gemcldet. Die Stunde strengte gar nicht an." ivder „Ich
habe abends noch mit meiner Mutter geatmet, die den
ganzen Dag hinter dem Ladentisch steht, es tat ihr so gut!"

Die Rleinen dagegen rrzählten, daß die Turnstunden jetzt
so viel mehr Spaß machten, weil die Rraft weiter reiche.
Daß sie mit größerer Ausdauer lausen und schwimmen
könnten. Und ;u Haus wird mit Mutter, Rinderfräulein
und sämtlichen Geschwistern geübt. „Mutter sagt, wir
zänken uns gar nicht mehr so viel, seit wir beide atmen."
Vder „Zu Hause satzen sie, daß ich lange nicht mehr so
zappclig bin." Vder „Ich schlafe jetzt abends immrr gan;
rasch ein, weil ich ini Bett noch meine übungen mache."

Es war selbstverständlich, däß die Sprechchüre sich sehr
rasch in Dewcgungschöre umwandelten. Besonders die
großen, anfangs schr gehemmten Mädchen fanden von der
Bewegung aus leichter den Mut ;u dem beseelten gespro-
chenen wort. ' , ,, >

Atmung beseelt. Sie schafft die Verbindung vom Gehirn
;um Lörper und umgekehrt. ,Man muß vom Ropf bis zu
den Füßen sprechen," sagte mir eine Sechzehnjährige, die

WM gerichteten AugrMWMn wie im Rrampf am Rleide
fingernden Handestim Vollgesiihl von Rraft

und Iugend vollkommen sicher sich sprechend bewegen kön-
nen — das war rs!

Und wie gan; anders werden nun die werke der Dichter
erfaßt, da wir nicht mehr nur Gehirnarbeit treiben, son-
dcrn, wie erlöst, mit freigewordenrn Rörper- und Seelen-
kräften aufnehmcn. wie anders hören wir! Alles wird ;u
wortmusik! Das ganze RlanggefUge eines Dichtwerkes
geht in uns ein — der Rhythmus der Dichtung schwingt
in unserm Rörper. „Vlis Randers" und „Aohn Maynard"
werden Erlcbniffe. Der ganze Mensch wird von der Dich-
tung ergriffen. Das ist es: dcr ganze Mensch! Vlicht nur
das armselige Tcilchen Gehirn arbeitet — sondern alles.

Der Ausdruck der Gesichter verändert sich. Das erstc,
was von der Atmung ausgeht, ist Ruhe. Aus der Ruhc
rrwächst Gesammeltheit. Aus der Gesammeltheit Ver-
tiefung. Aus diesem Insichhincinschauen wachsen immer
ncue schöpferische Ampulse. Und aus all diesen Dingen
gemeinsam wachscn Rraft und Ausdauer. Und welcher
pädagoge wüßte nicht genau, wie wichtig es wärc, daß
solche lpcrtc- der Gcsamtausbildung der SchUler zugute
kämen. Von hier aus ließe sich alles neu anpacken;-

Unser weihnachtsspiel zeigte die erziehlichen werte der ,
Atmung auf vielerlci Gebieten.

Ein Teil der Sprechchorkinder stellte lebende Bildcr
nach alten Meistcrn. Daneben wurdc von den Sprechern
die weihnachtsgeschichte von der VerkUndigung bis ;ur
Anbetung der Rönige gesprochen, und zwar so, daß Einzel-
stimmen die Lhöre unterbrachen wie ;. B. Maria, der
VxrkUndigungscngel, Elisabeth, die weisen aus dem Mor-
genlande und Herodes. Die Sprechchüre erschienen sichtbar
in Engelgewändern vor der Bühne, eingeteilt in sechs
Gruppen. Zwei der Gruppen traten dabei als lebendigcr
Vorhang vor den lebenden Bildern auf.

Zu Beginn jedes Lhorstückes wurde den sechs Teilchören
nur das Zeichen ;ur Ausatmung gegeben — wonach sie alle
an ihrer Stelle, sowohl singend wie sprechend, rechtzeitig
erschienen, rechtzeitig einsetzten und gan; gesammelt und
selbständig ihre Mission erfüllten. Dabei wurde die jüngfte
Gruppe von einer Seytanerin geführt!

Zwar stand ich als Gesamtleiterin versteckt in der Ru-
lisse, von wo aus ich Beleuchtung und Harmoniumeinsätzc
mit überwachte — aber im Grunde wurde alle Arbeit vor,
hinter und auf der BUHne von Rindern getan. Die aus
der 2ltmung erwachsene Ronzentration brachte es mit sich,
daß nicht nur die EngelzUge, ohne besondere Aufforderung
auf und ab gingen, sondern auch die lebenden Bilder nach
alten Meistern sich selbständig stellten — bis hinab zur
kleinstcn Sextqnerin. Ieder ging mit Sicherheit an seinen
platz und ordnete selbst die Falten des Gewandes. Zwar
hatten wir, klein und groß, in den wochen vorher die
Lilder in Ruhe miteinander betrachtet und besprochen und
sie mehrmals zusammcn gestellt.

Daß die Rinder nicht den stereotypen Ausdruck hatten,
der lebenden Bildern sonst leicht anhaftet, sondern ohnc
starr ;u werden, ruhig durchatmeten, zeigen die am Spiel-
abend gemachten Lichtbilder deutlich.

Den Bühnenauf- und -abbau, der sich zwischen Lild und
Lild blitzschnell zu vollziehen hatte, besorgte eine einzigc
kleine Guintanerin. Und. zwar geschah dies nicht bei ge-
schlossenem Vorhang, sondern, wie schon vorher erwähnt,
bci einem von lebendigen Engelkindern gestellten Vor-
hang, was höchste Geistesgegenwart erforderte. Die Diszi-
plin war beispiellos: auf einer winzigen BUHne mit noch
winzigerem seitlichen Vkebenraum zur Unterbringung der
Nicht-Auftrctenden standen über 50 Rinder, zum Eeil dicht
gedrängt, in tadelloser Haltung, gan; versenkt in ihr
Spiel ünd von dcr wichtigkeit ihrer Aolle für dzs Ge-
lingen bes Ganzen durchdrungeii. --:

Von dieser Difziplin durch die Atmung wäre noch man-
ches zu sagen. Sie erlcichterte alles. Da Über sünfzig Rin.
der für das Spiel ;u schminken waren,mußte dec Einzelne
sehr lange auf dicsen Akt wartcn. Die Mädchen waren --
ohne jede Aufsicht — in mehreren Räumen de» Schul-
hauses verterlt und wurden nux einzeln in den Schmink-
raum zutzelaffrn. Das SchulhauS wurdt «un fticht, wie ds



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