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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 8.1873

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Kinkel, Gottfried: Zwei Mailänder Kunstausstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4815#0055

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Zwei Mailänder Kunsteiusstellungen.

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zianisches Franenporträt, Brustbild, auf, hochblond und
üppig, die Brüste fast bloß, das dessinirte Kleid weinroth,
von höchster Schönheit, obwohl das Machwerk mir etwas
später als Giorgione schien. Ueber einen Mathematiker
von Dürer, der mit dem Cirkel einen aus Papier ver-
fertigten Körper zu messen scheint (bezeichnet wit deni
Monogramm und „A.. 11. 1519. Utu. 8. 48") wage ich
keine Entscheidnng. Die Perle der Ausstellnng war aber
ein ganz kleines miniaturartig ausgeführtes Altärchen in
Oel, ohne Bezeichnung, früher wegen seiner hohen Schön-
heit immer dem Raffael zugeschrieben, ohne jeden Zweifel
aber jetzt richtigdem Fra Bartolommeo gegeben. Die s
Erhaltung ist wnnderbar. Das Mittelbildchen stellt die
Madonna auf dem Thron in einer Landschaft dar; auf
den Seitenflügeln knieen, wieder in Landschaft, die heil.
Jungfrauen Katharina und Barbara; unter dem Mantel
der letzteren erscheint am Bodcn liegend ihr grausamer
Vater. Anßen grau in grau die Verkündigung, und auf
der Rückseite, fast naturgroß, ein Todtenkopf. Hinter
der Katharina sieht man, in die Landschaft vertheilt, gan;
klein, drei Scenen ihrer Marter: sie wird gerädert, ent-
hauptet und von den Engeln in ihr Grab auf den Berg
getragen. Sowohl diese Anordnnng, die sogleich an
Memling erinnert, als der blaue, gegen den Horizont
weisi werdende Himmel, der auch für Memling so charak-
teristisch ist, lassen erkennen, daß der Frate, als er dieß
Bild malte, von flandrischen Bilderu einen starken Einfluß
erfahreu hat. Auch der im Gegensatz zu seinen späteren,
so kühn aufgebauten Kompositionen großen llmfangs ganz
einfache und nicht gruppirende Entwurf, so wie die flan-
drisch gefühlte Landschaft, mit genauer Ausführung der
Pflanzen im Vordergrund, verrathen das Studium der
nordischen Kunst. Jn dieser feinsten Arbeit vou Figuren
kleiner Dimension kenne ich von Bartolommeo gar nichts
Aehnliches; die Schönheit der Gestalten aber ist so, daß
vor diesem kleinen Werke die einseitige Laienbewunderung
Raffael's sehr still werden sollte. Jn dieser Beziehung
ist auch das Datum wichtig: es ist deutlich 1500 zu lesen,
die Arbeit fällt also in die Jahre, als B. dem weltlichen
Leben ganz entsagt hatte und im Kloster nur für einen
geistlichen Frennd zn einem solchen Juwel von Andachts-
bildchen sich anspannte. Zugleich widerlegt es aber die
landläufige Anschaunug, daß Raffael bei seiner Ankunft
in Florenz den frommen Mönch mit seiner eigenen Be-
geisternng erst wieder in die Ilebuug der Kunst fort-
gerissen habe.

Die moderne Ausstellung fand in einem neuen
Gebäude unter deu Prachtalleen des Giardino Pubblico
bei Porta Venczia ihren Platz. Für Abtheilung und An-
ordnung des Jnnern in solchen Festräumen der Kunst
wird der Nordländer vou dem Jtaliencr leider noch lange
zu lernen haben. Ans einem länglichen Saal mit Ober-
licht, welcher die Skiilpturen enthielt, trat man in einen

prachtvollen hohen „8u1ons" von quadratischem Grund-
riß, und hier zeigten die räumlich großen Bilder sich treff-
lich auf Holzwänden, welche in's Achteck theils gegen die
Peripherie hin, theils innen um's Centruin gestellt waren.
Kosige Ruhesitze, wie bei dem heißen und ermüdenden
Klinia nothwendig, gaben in richtigcr Entfernuna den
behaglichsten Blick auf die Hauptwerke. An diesen
quadratischen Raum lehnten sich oben luftige Säulen-
Korridore, und diese führten in längliche Räume des
Obergeschosses, wo die architektonischen Zeichnungeii, die
Aquarelle und die Kupferstiche aufgestellt waren. Endlich
trat maii, wieder zu ebener Erde, aus dem großen 8nlons
durch einen reizenden glasbedeckten Garten mit erfrischen-
deni Springbrnniien in die gewaltige Gemäldegalerie,
welche die Form eines Kreuzes hat. Hier waren theils
an Wänden, theils iu links nnd rechts eingezimmerten
Kabinetten die Bilder mittlerer und kleinerer Dimeiision
angebracht.

Die Werke der Plastik in Gyps, Marmor und
andern Stoffen umfaßten 154 Niimmern; die Malerei
in allen Gattungen, mit Einschluß der Zeichnungen von
Architekten und Jngenieurs, zählte 867 Nummern. In
Ler Skulptur waltet in Italien noch stark die Allegorie
fort; die Nativn hat den antik-heidnischcn Trieb im Blut,
der die Jdee nicht real in einem einzelnen Beispiel ihres
Erscheinens, sondern gleich symbolisch als Figur darstellt.
Aber das reiche und mannigfaltige Volksthum des nenen
Reiches bietet danebeu anch fürModellfiguren den lohnend-
sten Stoff, und die neue Freiheit und Einheit liefert
historische Gegenstände. Die großen Geister des ver-
gangenen Jtaliens waren neben ihrer Bedeutung in ihren
eigensten Gebieten meist auch Anhänger und Propheten
derkünstigen Einheit und Nationalgröße, und darumkonnten
sie bei deu damaligen Herrschern nicht beliebt sein. Jta-
lien erkennt eine Ehrenpflicht Larin, ihnen nach Jahrhun-
derten spät noch gerecht zn werden, und es giebt jetzt kein
Land, wo von der Sknlptnr so zahlreiche Bllsten und
Denkmälerstatuen gefordert werden. Daneben tritt auch
die Gegenwart mit ihren Fragen heran. Ein Arbeiter, von
Autonio Rota in Genua („Ti'opsrngo, Nr. 36), buch-
stäblich den Schweiß seines Angesichts auf sein Brot
träufelnd, ein Schulbube von Raffaelle Belliazzi in
Neapel, der auf dem Schulweg eifrig aus dem Buche seine
Lektüre lernt („I ÜAli äsl xopolo äsllu uuovu Asnsru-
eions" Nr. 3), die Nätherin von Emanuele Caggiano
in Neapel (knns s lavoro, Nr. 47), mit dem Stück trock-
nen Weißbrots vor sich, gebeu die Gedanken, welche in
unsern Tageu alle Gemüther bewegen, doch etwas auf-
vringlich und gehen selbst in der Textur der Stoffe in's
derbRealistische. BeiMädchen,welcheBriefeschreiben oder
auch nur in einem Buche lesen, fällt einein in italienischen
Skulptursälen bald auf, daß sie vor dem Anfange dieser
schweren Geschäfte ihre Kleidung anf's bloße Hemdchen
 
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