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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 8.1873

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Meyer, Bruno: Die Venus von Melos
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https://doi.org/10.11588/diglit.4815#0324

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Die Veims von Melos.

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von Wahrscheinlichkeit könne verAnalogie-Schluß nur darm
Anspruch machcn, wenn dcr reale Zusammcnhang zwischen
dcn verglichencn Werkcn aus andcrcn Gründen, als aus
der vollständigen oder unvollständigcn Uebercinstimmung
nachgewicsen wcrdcn kann; denn sonst sei cs vollständig
denkbar, daß bei der großcn Leichtigkcit und Unbefan-
genheit, mit welcher bci den alten Künstlern Motive
entlehnt und umgebildet und neu angewendet wurden,
die individuelle Freihcit des Künstlers unv die Selbstän-
digkeit dcs einzelncn Wcrkes durch einc solche schemati-
sirende Methode gänzlich um ihr Recht gebracht werde.
Anders ja verhalte sich die Sache im Gebiete der Natnr,
wo eine gleichmäßig schaffende Kraft nicht durch die indi-
viduclle Willkür bci jedem einzelncn Akte des Hervor-
bringens unterbrochen und modificirt wird.

Dieser schematisirenden Methode stellt Valentin
nun die individualisirende ästhetische gegenüber,
welche jedcs cinzelne Kunstwerk an sich und aus sich selbst
heraus zu verstehen sucht. „Erst wenn sie zu einer
Erkenntniß auf diesem Wege gelangt ist," sagt er S.
33, „sieht sie sich um, ob das Werk etwa mit anderen
zu eincr gleichsam eine Gattung darstellcnden Rcihe von
Werken zusammenzustcllen sei, beklagt es aber durchaus
nicht, falls dies nicht gcschehen kann, da jedes große
Wcrk dcr Kunst immcr eigenartig ist und allcin dasteht,
und es überhaupt der Zweck des cinzelncn Kunstwcrkes
nicht sein kann, Objekt eincr besonderen Wisscnschaft zu
werden, welche dic Kunstwcrke bchandelt, als ob sie di-
rekte Naturcrzeugnisse wären, sondcrn nur, cinc bestimmte
Empsindung in cmpsindungSfähigcnSubjektenzuerwecken."
Jede der beidcn Methoden bcfolgt das bcsondere Ziel
der von ihr vertretenen Wissenschaft, und das Ergebniß
wird im einzelncn Falle das Kriterium abgeben, welche
von beidcn dem Zicle aller Forschung, der Erkenntniß
des Wahren, unabhängig von den Fesseln einer beson-
deren Disciplin, am nächsten gekommen ist.

Diese Entgegensetzung der bcidcn den alten Kunst-
werken gegenüber anzuwendenden Methoden hat ihre tiefe
Bercchtigung; nicht darin, daß sic der archäologischcn
Methode den Boden zu cntziehen sncht und sic diskre-
ditirt, dcnn auch die archäologische Methode hat sichcr
ihr Richtigcs und hat in zahlreicheu Fällcn zu den über-
raschcndsten und glänzendsten und als sicher scststehend
mit Recht anerkannten Ergebnissen geführt. Wohl aber
ist es richtig, daß dieselbe eine gewisse Grcnze hat, auf
welche aufnierksam gemacht wcrden muß, namcntlich wcil
die Gewöhnung unv die leidige Begucmlichkeit in der
Anwendung des gewöhnlichen Forschungswegcs geistlose
Arbeiter auf dem Gebicte der archäologischcn Wissenschaft
jene Grenze nicht sinden und nicht bemerken läßt, wo
dann aus der Nichtachtung der Grenze des Erkennens
alle möglichen falschen Anschauungen und Schlußfol-
gerungen sich ergeben, von deren Unzulässigkeit den glück-

lichen Entdeckern dann natürlich schwer ein Begriff bei-
zubringen ist.

Bei allen wichtigcn Streitfragen um die Restitution
verlorener oder stark verstümmelter alter Denkmäler ist
man immer nach einiger Zeit mit Hülfe der archäolo-
gischen Methodc auf den Punkt gekommen, wo mit der-
selben auch nicht das Allermindeste mehr anzufangen
war. So beispiclswcise bei der Frage nach der Grup-
pirung der Niobiden, bei welcher die archäologischc Me-
thode in dem bekannten und in vielfacher Hinsicht sehr
verdicnstlichen Werke von K. B. Stark schier das Un-
mögliche iu Verfolg ihrer einseitigen Richtung leistete.

Als ich es damals (1864 — 65) unternahm, diese
Frage noch einmal zu ventiliren, gelangte ich wie von
selber zu dem Ergebnisse, daß die archäologische Methode
hier vor eincm unlösbaren Problem an der Grenze ihres
Vermögens angekommen sei. Jch schrieb daher, um zu
einem anderen Mittel der Lösung zu gelangen, jenen
Satz, den mir der verstorbene Eduard Gerhard, mein
sehr verehrter Lehrer, obgleich er meiner Arbeit lebhafte
Anerkennung zollte, durchaus nicht verzeihen konnte, daß
„nrviiuöoloAins oxibus oximustm" eine Lösung der
Frage nur noch auf ästhetischem Wege, d. h. dnrch Be-
trachtung der Gesetze plastischer Gruppirung und der
Anwendbarkeit derselben auf die Niobiden - Gruppe in
ihren unbcstrittenen Hauptmomenten möglich erscheinc.

Ganz mit demselben Rechte weist Valentin jetzt
bei der Venusstatuc von Melos der Archäologie die Un-
fähigkeit nach, mit ihren Mitteln und mit ihrer Methode
zu einem sicheren und nnzweifelhaften Ergebnisse zu ge-
langen- Er zeigt, daß selbst von denselben Voraus-
setzungen ausgehend verschiedenc Archäologen zu gerade
cntgegengesetzten Schlüssen gekommen sind; daß ferner
die verschiedenen zum Vergleiche herangezogenen Kunst-
werke in dcn wichtigsten Punkten kaum eine Aehnlichkeit
mit der Venus von Melos aufweisen, wie sie denn un-
geachtet ihrer höchst charakteristischen nnd originellen Ge-
wandung sowohl mit ganz bekleivetcn, wie mit fast ganz
unbekleideten Gestalten in Parallelc gesetzt worden ist.

Diesen Mißgriffen und der absoluten Resultatlosig-
keit der archäologischen Methode gegcnüber sucht Valentin
nun nach seiner individualisircnden ästhetischcn Methove
rein aus' der Statue selbcr zu einer Deutung und histo-
rischen Ansetzung derselben zu gelangen. Wie ich bei
den Niobiden von den Gcsetzen der plastischen Grup-
pirung ausging, so stcllt er an die Spitze die Arten der
Darstellung überhanpt. Er statuirt dcrcn zwci: die
typischc und die vramatische. Unter thpischcr Dar-
stellungsweise ist diejenige zu verstehen, welchc den blci-
benden Charakter eines Wesens zusammcngefaßt in einer
einzigen Form der Erscheinung zur Anschauung bringt;
dramatisch wird die Darstellungswcise dann, wenn
cine bestimmte cinzelne Haudlung den Borwurf bildet.
 
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