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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 19.1884

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Vom Christmarkt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5805#0063

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121

Vom Christmarkt.

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der Apparat, der nur kleiner Änderungen in Haltung
und Drapirung bedarf, »m sich einem neuen Stoffe
ohne Zwang anzubeguemen. Daß es dabei nicht an
geistreichen Einfällen fehlt, die an den Ton der Dichtung
anklingen und die durch sie erweckte Vorstellung weiter-
spinnen, bedarf bei Thu-
mann keiner besonderen
Betonung. Schwer aber
ist dem formgewandten
Jllustrator die Aufgabe
gcfallen,für die sogenann-
ten Vollbilder, die nun
einmal bei einem regel-
rechten Prachtwerke nicht
sehlen dürfen, die geeig-
neten Scenen ansfindig
zu machen. Bei der Lö-
sung dicser Aufgabe ist
der Künstler mitunter ab-
sichtslvs zum Kritiker ge-
worde», und zwar zu
einem herben Kritiker, der
die Schwächen dcr Dich-
lung ohne Nachsicht bloß-
legt. Er führt den Bc-
weis, wie schattenhaft, hohl
und wesenlos gar manche
Persönlichkeit ist, von de-
ren Schicksalen nnd Ge-
sühlen nns der Dichter
unterhält. Zwei Beispiele
mögen angeführt sein.

Die weinerliche Senti-
mentalität, der„ins dent-
sche Quartier gekomme-
nen" Grenadiere kann
heutzutage kaum noch eine
Menschenseele dicßseits der
Vogesen rühren; auchThu-
mann hat sie offenbar
nicht sehr ergriffen, und
wenn er den beiden ab-
gerisienen Kerlen Sack-
tücher in die Hand giebt,
mit denen sie ihre Ge-
sichter dem unmittelbaren
Anblick entziehen, so läßt
er uns wohl geflissentlich im Zweifel, ob es Weinen
oder Lachen ist, was hinter dem Vorhange dor sich
geht; man ist versucht zu glauben, daß er diesen ironi-
schen Zug dem Dichter selbst abgelauscht habe. Noch
schärser tritl die Berlegenheit des Jllustrators, der
Mangel an Sympathie mit dem Dichtcr hervor, tvenn

er das Grausige und Spnkhafte in feste Formen zu
bannen sucht. Offenbar war es nicht der innere
Drang, der ihn das „lange Laster" mit dem ansge-
sprochenen Talente für Straßenraub aufsuchen ließ.
Wir fragen uns vergeblich, womit der Strolch es eigent-

lich verdient hat, erst be-
sungen und dann abge-
bildet zu werden. Glück-
licherweise hat den Künst-
ler sein guter Genius
davor bewahrt, demDich-
ter bis an die tragikomi-
scheKatastrophe zu folgen,
wo die indignirte Mutter
ihrem mißratenen Spröß-
ling die Bibel ins Gesicht
wirft und gleichzeitig der
„tote Vater im schwar-
zen Predigergewand" zur
kräftigeren Hervorrufung
der Gänsehaut nützliche
Verwendung findet. Wir
sind nicbt der Meinnng,
daß die Lprik nicht illn-
strirt wcrden kvnne, wie
oft behauptet worden,
wohl aber, daß es eiue
gewisse Art von Lyrik
giebt, die nur illustrirt
zu werden braucht, um ihre
Verurteilung zu finden.

Wenden wir uns ab
von dieser düstern Phan-
tasmagorie zuheiteren Le-
bensbildern, die sich klar
und saßbar auf dem Bo-
den heimatlicher Natnr
abspielen! Vondem Neuen
zu demAlten — dem alten,
treuherzigen Ludwig
Richter! Das ist der
echte Lyriker nnter den
Jllustratoren, da ist alles
Sang und Klang, ernster
Orgelton und fröhlicher
Schalmeienklang, alles
aus vollem Herzen, mit
voller Hand gespendet. Zwei Bilderreihen des treff-
lichen Meisters, die schon einige Jahrzehnte hinter sich
haben, sind uns wieder auf den Tisch gelegt, allbekannt
unter den Titeln „Fürs Haus" und „Unser täg-
liches Brod". Sie haben kürzlich den Verleger ge-
wechselt, und wir kommen dem Ersuchen der jetzigen
 
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