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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 19.1884

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Rosenberg, Adolf: Munkacsy's "Christus vor Pilatus"
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https://doi.org/10.11588/diglit.5805#0183

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Munkacsy's Christus vor Pilatus.

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breite Massen bestimmt auftrctenber Lokalfarben in ein
Gleichgewicht mit einander zu bringen sucht.

Jn Bcrlin, wo die Ausstellung des Bildes im
Lokale des Künstlervercins erfolgt ist, hat man in den
allgenieinen Enthusiasmus nicht so bedingungslvs ein-
gestimmt. Auch hier war der Oberlichtranm zu einem
Sanktuarium eingerichtet worden, in welchem nur das
Gemälde ein volles Licht empfing. Durch einen deni-
selben gegenüber ausgehängten Spiegel suchte man die
Wirkung noch zn verstärken. Wie bei der auf diese
Weise bewirktcn Zusammenfassung des Lichtes natürlich
ist, traten, wenn man in dcn Spiegcl blickte, die Figuren
der vorderen Reihe noch plastischer hervor, als wenn
nicm die Leinwand direkt betrachtete. Solche Hilfs-
niittel sollten aber bei cinem wahrhaft vornehmen Kunst-
wcrke verschmäht werden, wie übcrhanpt die ganze
Jiisccnirung des Bildcs einen schaubudenartigen Charak-
ter hat. Selbst bei den Makartschen Wanderbildern hat
wan sich solcher Jahrmarktskniffe, zu denen auch die
künstliche Beleuchtung des Abends gehört, nicht bedient.

Unmittelbar nach „Milton und seinen Töchtern"
konzipirt, steht „Christus vor Pilatus" im Werke Mun-
kacsy's ani Anfang derjenigen Arbeiten, welche den
Ubergang aus dcm schwarzgrauen Gesamtton zum
reinen KvloriSmus bezcichnen. Während aber Genre-
bilder wie „Die beiden Familien", der „Gcburtstag",
der „Besuch" gleichsam nnr Farbenbouquets sind, in
welchen Figurcn, MLbel, Pflanzen, Stoffe, Geräte
u. s. w. mit gleichcr Berechtigung nebeneinander wie
die farbigen Stifte eines Mosaiks Verlvendet werden,
weil der Maler hier diesen nnd dort jenen Ton für
sein gewolltes kvloristisches Ensemble braucht, sind die
Fignren auf dem großen Histvrienbilde mit Vvllem
Respekt vor der menschlichen Form und mit tiefem Ernste
behandelt. Dafür sprcchen auch die naturgroßen Kopf-
studien, welche Munkacsy für die Di'itglicder des San-
hedrins und die verschiedencn Erscheinungen in der
>u das Gerichtshaus hineindringenden Vvlksmenge nach
Pariser Modcllen ausgeführt hat. Dieses eisrige
Modellstudium ktingt sogar in dcm Bilde nach. Die
Figuren werdcn nicht durch das Band einer gcmein-
samen Enipfindiing, eines gemeinsamen Willens zu-
sammengchalteii, svndern cine jede sührt cin selbständigcs
Leben sür sich, wie cs dem individuellcn Tempcrament
und der jewciligen Stimniung des betreffenden Modells
entspricht. Wir haben eine Versammliing interessan-
ter Naturstudien, charaktcristischer Votkstypen vor nns,
von denen jede einzelne durch eine besondcre Eigen-
schnft sesselt, aber diescr wvhl studirten Konibination
Vvn Figuren fehlt der einheitliche Zug einer gemein-
sanien, bis zur Siedehitze aiifgestacheltcn Leidenschast,
>velche über die gewöhnlichcn Äußerungcn der indivi-
buellcn Temperamente emporgewachscn ist. Wir em-

pfangen nicht den Eindruck, als ob die erste Wclle
einer tobenden Brandung im Atrium des Landpflegers
plvtzlich zuni Stillstand gekommen ist, nnd man sieht
nicht recht ein, weshalb der römische Soldat seine
Lanzc vorhält, da die einzelnen Aktfignren kcinc nndere
Störung ansüben, als daß sie durch ihre emporgercck-
ten und ansgestreckten Arme die Linien der Kompost-
tion zerreißcn. Munkaesy ist ein Mann der Kontem-
plation, kein Künstler, dem die Kraft dramatischcr
Erfindnng zur Seite steht. Die nm den Prokonsul
hcrnm sitzendcn Rabbincr niit ihren prächtigcn Bärtcn
und ihren blauen, braunen und pfirsichfarbenen Ge-
wändern, welche ein wahres Entzücken sür jedes farbcn-
freudige Auge bilden, sind Muster orientalischer Be-
schaulichkeit. Man ist geneigt, den sinster vor sich
hinblickenden Pilatns, wclcher auf den Fingern der
linkcn Hand die Frage abzuwägen scheint: „Was ist
Wahrheit?" weit eher für einen blntdnrstigen Fana-
tiker zu halten, als jene würdigen Greise.

Die erste Reihe der Fignren, aus welchcr Christus
und der Soldat etwas heraustreten, ist von außer-
ordcntlicher plastischer Wirkung. Aber dieselbe ist auf
Kosten der Figuren des Hintcrgrundes erziclt, welche
so zusanimcngedrängt sind, als ob sie ilbcrhaupt keine
Kvrper hätten. Aus die vorderen Figuren fällt ein volles,
kühles Licht, das dnrch die oberc Öffnung des Atriums
kommcnd gedacht ist. Es fällt auf die Stusen, welche
zur Exedra des Landpflegcrs emporführen, so grell, daß
seine Reflexe aussehen, als wäre Wasser über die
Stufen gegosicn. Durch dcn schroffen Wechscl zwischen
dcr Beleuchtung des Vvrdcrgrundes und dem niatten
Dämmerlichte dcs Hintergrundes ist das plastische Her-
vortreten der ersten Figurenreihe wohl zumeist erreicht
worden. Daß die Fignren des Hintergrundes abcr
gar nicht zur Geltung kommen und vor allen Dingen
nicht den Eindruck machen, als ob eiue große Bolks-
menge in dcn Saal hineingestürmt sei, ist hauptsäch-
lich dem Mangel an Luft zuzuschreiben, welche Mun-
kacsy nicht sieht oder doch nicht darstellen will, wie
die ganze moderne Pariser Schule, die in ihrem Stre-
ben nach sineöribs, das man auch mit Einfältigkeit
übersetzen kann, inittlerwcile aus jenem naiven Stand-
punkte angckomnien ist, von dem die Brüder van Eyck
vor 450 Jahren ausgegangen sind.

Noch nicht zusrieden niit der von oben kommen-
den Lichtfülle hat Munkacsy den Rhythmns der Kom-
position an drei Stellen durch scharfe Cäsuren unter-
brochen: ganz rechts die weiße Toga des Pilatus, etwas
links von der Mitte die lange, in das weiße Gewand
der Vernunftlvsen gekleidcte Gestalt Christi und noch
weiter nach links das Hcmd eincS dcr lautestcn Schrcier
aus dem Volke. Diesem Übermaß von Wciß halten die
beiden blauen Gewünder an den äußersten Enden der
 
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