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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 26.1915

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29

Literatur

der vergangenen Generation abzuwenden beginnt und nach
exakten und sichern Normen des Lebens sucht.

Tietze nennt sein Buch bescheiden einen »Versuch«.
Was für eine Kühnheit und welch ein Mut gehören
aber dazu, als Erster einen solchen Versuch zu wagen,
als Erster an Fragen zu rühren, denen bisher die
meisten scheu ausgewichen waren. Und besonders bei
einer Disziplin, die die schlimmsten Feinde im eigenen
Lager hat, die heute der Tummelplatz des ärgsten und
ahnungslosesten Dilettantismus zu werden droht, eines
Dilettantismus, der langsam, aber sicher seine Hände auch
nach den Universitäten ausstreckt. Das gefährlichste für
eine ruhige Entwicklung dieser Disziplin ist aber der Um-
stand, daß die berufenen Vertreter des Faches sich über
Begriff, Wesen, Zweck und Ziele ihres Faches nicht einig
sind, daß fast ein jeder unter »Kunstgeschichte« etwas
anderes verstanden wissen will. Und wenn das Buch keinen
anderen Erfolg hat, als daß es den Anstoß zu einer Klärung
dieser unerfreulichen Lage gibt, so ist schon viel gewonnen.
Geradezu bewunderungswert ist es, wie ein bei diesem
Stande der Dinge so heikles Unternehmen überall der nahen
Versuchung, sich in unfruchtbaren Polemiken zu ergehen,
ausweicht, wie überall Sachlichkeit und ruhiger Ernst
vorherrschen; kein bloßes negatives Zerstören, sondern
positives Aufbauen!

Das erste Kapitel, »Begriff und Wesen der Kunst-
geschichte« betitelt, geht von der Tatsache aus, daß wir
es in der Kunstgeschichte nicht nur mit einem Nachein-
ander von historischen Tatsachen, sondern auch mit einem
Nebeneinander der fortexistierenden Kunstwerke zu tun
haben. Daraus erklärt sich gleich die fundamental ver-
schiedene Auffassungsweise der Kunstgeschichte: einmal
als einer historischen, das anderemal als einer ästhetischen
Disziplin. Wir haben es also das einemal mit einer Tat-
sachenwissenschaft, das anderemal mit einer Gesetzes-
wissenschaft zu tun. Der extreme Gegensatz zwischen
diesen Auffassungsweisen besteht heute freilich kaum mehr
in seiner ganzen Schärfe zu Recht; bei den meisten hat
sich die Überzeugung Bahn gebrochen, daß Kunsthistoriker
wie Ästhetiker ohne die gegenseitige Hilfe nicht auskommen
können. Nur muß man sich immer klar vor Augen halten,
daß die Kunstgeschichte, wie andere historische Wissen-
schaften, nicht selbst Gesetze zu suchen hat, sondern, falls
es solche gibt, sie als Voraussetzung ihrer Arbeit von der
Ästhetik zu übernehmen hat (S. 6).

Die Grundlage der Kunstgeschichte (wie aller histo-
rischer Wissenschaften) bildet die Überzeugung von der
Stetigkeit aller Entwicklung (S. 13). Das Treibende dieser
Entwicklung ist »das veränderliche und stets sich ändernde
ästhetische Bedürfnis«, das was Riegl das »Kunstwollen« einer
Zeit genannt hat. Tietze erweitert diesen Riegischen Begriff,
indem er darunter die »Synthese aus den künstlerischen
Äußerungen einer Zeit« versteht (S. 14). Indem man die
Betrachtung dieses zentralen Problems in den Mittelpunkt
stellt, kann man über eine Künstlergeschichte hinaus zu
einer wirklichen Kunstgeschichte kommen.

Wie alle Geisteswissenschaften muß auch die Kunst-
geschichte aus der ungeheuren Menge von theoretisch
gleichwertigen (gleich wichtigen) Objekten eine Auswahl
treffen. Ein objektives Kriterium zur Bewertung der ein-
zelnen Entwicklungstatsachen kann aber nur im ursprüng-
lich e n Zwecke der Kunstwerke gefunden werden, und dieser
Zweck ist die Wirkung; erst durch die Wirkung auf Men-
schen werden Kunstwerke zu historischen Tatsachen. Die
klare Feststellung dieses von Riegl vorgebildeten Prinzips
der »Extensität der Wirkung« ist von höchster Bedeutung,
da es allein eine wirklich wissenschaftliche objektive Be-
trachtung der Tatsachen ermöglicht; alle so beliebten Spe-

kulationen, daß ein Kunstwerk »für seine Zeit« vielleicht
bedeutend war, »für uns« aber minderwertig ist, alle Ver-
dammungen ganzer Kunstepochen als »unkünstlerisch«
werden dadurch, zum Nutzen der Wissenschaft, im Keime
erstickt. Es hieße, die Wissenschaft dem schrankenlosen
Subjektivismus ausliefern, wollte man das Urteil des
»Kenners«, des einzelnen oder einer Gruppe (unkontrollier-
bar) feinfühliger Menschen als das Kriterium der Beurteilung
aufstellen, wie das ja häufig genug geschieht. Für Tietze
ist die Kunstgeschichte als Wissenschaft »eine Erforschung
und Darstellung aller Tatsachen, die die Entwicklung des
menschlichen Kunstwollens erkennen lassen, in ihrem kau-
salen Zusammenhang« (S. 30).

Nach einer kurzen Darlegung der Entwicklung des
Begriffs der Kunstgeschichte (referierend - pragmatische,
pragmatisch-genetische und genetische Kunstgeschichte) ver-
sucht Tietze eine Einteilung der Kunstgeschichte zu geben.
In thematischer Hinsicht lehnt er die Einteilung in an-
gewandte und freie, sowie die in nachahmende und deko-
rative Künste ab. Die traditionelle Einteilung in Malerei,
Plastik, Architektur und Kunstgewerbe ist schon darum
vorzuziehen, weil in ihr »die Regel der künstlerischen
Praxis« zum Ausdrucke kommt. In chronologischer Hin-
sicht scheinen die gebräuchlichen Stilbezeichnungen den
Ansprüchen einer systematischen Begriffsbildung nicht zu
genügen, und es erscheint vorteilhaft, die Kunstgeschichte
nach einzelnen bestimmten Zeiträumen (Jahrhunderten, Jahr-
zehnten usw.) zu behandeln. Nichtsdestoweniger werden
wir, aus Gründen einer raschen Orientierung, auch weiter-
hin ohne die alten eingewachsenen konventionellen Stil-
bezeichnungen nicht auskommen können (S. 99). Bei dieser
Gelegenheit möchte ich es als eine andere erfreuliche Seite
des Buches bezeichnen, daß Tietze sich überall vor billigen
Neukonstruktionen mit effekthascherischen Namen hütet;
wo es angeht, wird auf den traditionellen Gebrauch Rück-
sicht genommen, da neue Terminologien doch wieder nur
zu neuen Mißverständnissen Anlaß bieten.

Einer der interessantesten Abschnitte ist die Besprechung
des Verhältnisses der Kunstgeschichte zu anderen Wissen-
schaften. Die Kunstgeschichte steht zwischen Geschichte
und Ästhetik, zwischen Philologie und Naturwissenschaft;
an allen nimmt sie Teil und alle an ihr. Eine reinliche
Scheidung der Interessensphären ist ebenso nötig als
schwierig und heikel. Es würde viel zu weit führen, die
auf einer erstaunlichen Kenntnis der betreffenden Literatur
aufgebauten Untersuchungen hier auch nur in den flüch-
tigsten Umrissen wiedergeben zu wollen. Als Resultat
dieser Betrachtungen ergibt sich, daß die Kunstgeschichte
die »unbedingte Zugehörigkeit zur Gruppe der Geschichts-
wissenschaften betonen« muß, »von denen sie sich aber
durch den anschaulichen, auf ästhetischem Wege perzipier-
baren Charakter ihres Materials unterscheidet« (S. 165—166).

Aus der Besprechung des Verhältnisses der Kunstge-
schichte zur Kunst möchte ich besonders die Forderung T.'s
an den Kunsthistoriker hervorheben, eine lebendige Be-
ziehung zur Kunst der eigenen Zeit zu suchen, sich selbst
zu einem feinfühligen Instrumente des heutigen Kunst-
wollens zu machen. Denn wie will man den Kunstabsichten
vergangener Epochen nahekommen, wenn man dem Fühlen
und Wollen unserer eigenen Zeit stumpf und verständnislos
gegenübersteht?

Im Hauptteile des Buches, in der Methodologie, geht
T. von der Erkenntnis aus, daß »nicht das Kunstwerk an
sich der Gegenstand kunstgeschichtlicher Erforschung ist,
sondern das Kunstwerk an der bestimmten Stelle, die ihm
in der Entwicklung gebührt« (S. 174). Dadurch allein, »daß
das Kunstwerk durch seine Entstehung eindeutig bestimmt
sei«, ist die Kunstgeschichte als historische Wissenschaft
 
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