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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 26.1915

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Eisler, Max: Das Marktbild von Ypern
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https://doi.org/10.11588/diglit.6190#0207

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Das Marktbild von Ypern

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flügelnden Siedlung, die um 1250 200000 Einwohner
gezählt, 4000 Webstühle im Gange gesehen haben
soll, schafft jene beiden Kanalarme, die vom Stadtfluß
aus im Süden bis zum Viehmarkt, im Norden bis
zur westlichen Seitenfront der Tuchhalle abzweigen.
Heute sind Fluß und Kanalstränge überwölbt. Aber
wir finden, dem mittelalterlichen Zustande entsprechend,
dort noch die Schifferhäuser mit den Sinnbildern
der Schiffahrt, hier längs der Westseite des Van den
Peereboomplatzes jene Doppelfassade, deren Vorder-
häuser auf das Terrain des alten Kanalbettes vor-
gerückt sind.

Die bei verhältnismäßig früher Verdichtung seiner
Bauwände andauernde »Raumseligkeit« des Haupt-
platzes erklärt sich aus seiner umfassenden Funktion
als Marktstelle nicht nur des städtischen Gewerbes,
sondern namentlich auch der ländlichen Produkte aus
dem weiten, umliegenden und rechtlich zugehörigen
Kreise dörfischer Siedlungen; daneben konnte seine
Entlastung durch wenige, aus verbreiterten Straßen-
stücken entstandene Spezialmärkte nicht allzu schwer
ins Gewicht fallen. Dabei scheint sowohl für die
Entstehung als auch für den Fortbestand dieser im
reifen gotischen Stadtbild ungewöhnlichen Weitläufig-
keit die Entwicklung der innerstädtischen Tuchindustrie
und ihres Großhandels weniger ausschlaggebend ge-
wesen als die vor aller Stadtwirtschaft und nach ihrem
Verfalle gleich bedeutsame Landschaftsrolle des Marktes.
Wohl »helt man im jar zweymal allhie Jarmarckt,
insonderheit aber mit Tuch und Woll, damit allezeit
die Flanderer großen handel getrieben haben«, aber
dieser gelegentliche und noch vor dem Ende des
Mittelalters zurücktretende Anspruch an eine großartige
Stapelstätte besagt weit weniger als der einer allwöchent-
lichen Feilbietung des landwirtschaftlichen Ertrages
mit ihrem platzraubenden Stand- und Budenwesen:
»Daher alle wochen gemeiner Marcktag, besonder auff
den Sambstag gehalten wird und holen zu Hypern
alle umbligende Stätt, Flecken und Dörffer jhre not-
tuerfftigkeit.«

Aus diesen örtlichen, wirtschaftlichen und sozialen
Gegebenheiten entwickelt sich das organische Bild
des Großen Marktes, ehe noch die gotische Kunst
hier eingreift. In das langgestreckte Rechteck münden
von Süden her vier Straßenzüge, die sich als Gabe-
lungen des einen, mit dem Stadtfluß durch das be-
festigte Südtor, de Meessenpoort, eintretenden Land-
weges erweisen, während die vier Gassenöffnungen
der Nordwand in drei nördlichen Landstraßen das
Weichbild verlassen, die vierte eine Gabel des mitt-
leren Stranges darstellt. Im Westen und Osten öffnet
der gradläufige Zug der Butterstraat und ihrer Fort-
setzung die Südwest- und die Südostecke der Platz-
wand. Das Marktfeld besitzt also im ganzen zehn
Öffnungen. Diese reichliche Aufgeschlossenheit, aus
dem reichlichen Zusammenströmen von Landwegen
erklärt und ein Spiegel der ausschlaggebenden land-
städtischen Funktion des Platzes, wird aber schon durch
vielerlei Momente organischer und sozialkünstlerischer
Art gemildert. Schon hier greift die Gotik ein, nicht
willkürlich, sondern an die natürlichen Gegebenheiten

anknüpfend und eben darin ihr Merkmal gewachsener
Baukultur erweisend. Nimmt man vorweg, daß diese
Fülle von Straßenmündungen einem großartigen Raum-
volumen zukommt, dann interessiert vor allem, wie
die Gotik der dennoch verbleibenden, ihrem Wesen
feindseligen Weiträumigkeit und Aufgeschlossenheit
begegnet.

* *

*

Der Schließung des Marktbildes kommt schon die
verhältnismäßige Enge und die natürliche Neigung
der alten Straßenzüge zur schrägen und gekrümmten
Ausmündung zustatten; von zehn Gassen gehen nur
zwei mit verbreiterter Mündung in das Platzbett über,
laufen nur zwei andere gerade gerichtet in die Markt-
stelle aus. Aber alle vier, der Geschlossenheit des
Raumbildes abträglichen Öffnungen werden durch die
Art ihrer Situierung unschädlich gemacht. Denn sie
erschließen durchwegs die Ecken des Platzrechteckes
und bieten daher den Hauptblicken in der Längs- und
Querachse des Marktes nicht weithinreichende Löcher,
sondern — wie alle übrigen Öffnungen — nahe be-
schlossene Ausbuchtungen. Doch bleibt die Gotik
bei diesen groben Ausnutzungen der überkommenen
Motive nicht stehen, sondern geht in organischer
Konsequenz zu ihrem feineren Ausbau über. Der
Gradläufigkeit der Wandfluchten setzt sie die Brechung,
d. h. der flächenhaften die Raumwirkung, den offenen
die verstellten Mündungen entgegen. Die Knickung
der Platzwände, erreicht durch das Vorspringen und
Rückweichen der einzelnen Blockfassaden, ist durch-
gängig; statt flacher Schauseiten bieten sich halt-
gebende, körperliche Erscheinungen, deren Summe
die eindringliche Vorstellung des Marktraumes herbei-
führt und an Stelle des monotonen, grundgebenden
Rechteckprismas ein vielfach gegliedertes und bewegtes
Raumgebilde vermittelt. Die Verstellung der Mün-
dungen setzt gerade dort am kräftigsten ein, wo der
gotische horror vacui am meisten Anlaß findet: in
jener Südwest- und Südostecke, die je zwei Gassen-
mündungen in annähernd rechtem Winkel aufeinander-
stoßen lassen. Dann wird eine Blockwand ausgebogen,
der mittlere Blockkeil derartig geführt, daß eine seiner
Seiten mit schrägem Verlaufe die Mündung verengert,
die andere von den vorrückenden Häusern gegenüber
verstellt wird. Einen ähnlichen, wenn auch einfacheren
Vorgang beobachtet die Südostecke des Marktplatzes. —
Jetzt erscheint nur noch die Westhälfte der Nordwand
mit der alten, wenig ansehnlichen Hauptkirche und
der vorgelagerten Heiligen-Geist-Kapelle reichlich auf-
gelöst und aufgeschlossen. Und hier setzt nun am
Beginn des 13. Jahrhunderts, zusammen mit der Auf-
führung der gegenüberliegenden Tuchhalle, die monu-
mentale Gotik und ihre selbständige Raumschöpfung
entscheidend ein.

Diese Umgestaltung, die dem großen Markte von
Ypern sein dauerndes, in die Höhe großartiger Raum-
kunst ragendes Gepräge geben sollte, betrifft zunächst
die Westhälfte des Platzes, der bisher — trotz eines
nicht näher bekannten Häuserwürfels auf dem Terrain
der späteren Tuchhalle — der raumleeren Wirkung
 
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