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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 14 (2. Aprilheft 1907)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0120

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scheinung wahrhaftig aus sei-
nem Wesen heraus. An die Auf--
nehmenden: besähigt euch, aus den
Lrscheinungen die Kräfte her-
auszufühlen, die hier nicht vor-
geblich, sondern wirklich gestaltet
haben. Wie wär' es da mit dem
Worte „Ausdruckskultur"?
Wollte man ganz deutsch sprechen,
könnte man vielleicht sagen: „Aus-
druckspflege^ — aber wohl erst
mit der Zeit, für's erste wäre der
Sprung zu groß. „Ausdruckskultur"
wäre ein neues Wort, das als
solches von irreleitenden Assozia-
tionen srei wäre. A

!^! Dre „Eifenbahn-Lektüre"
möchte ich ausrottcn können. Man
versteht leichte Lesestoffe darunter,
„leicht" sowohl nach der sittlichen
Seite hin, also das eben noch von
der Polizei Zugelassene, leicht na-
mentlich aber auch nach Gehalt und
Wert; flott geschriebenes Zeug, das
uns vor der Langeweile schützt und
nnsern innersten Menschen ganz un-
behelligt läßt. Man hat den Deut-
schen lange nachgesagt, daß sie keine
Bücher kaufen: als Eisenbahn-Rei-
sende sind sie arge Verschwender
im Bücherkaufen. Das wäre nicht
so schlimm, wenn sie nicht ge-
rade „Eisenbahn-Lektüre" kauften.
Ich lese bei jeder Eisenbahnsahrt,
und mir scheint es nach meiner
Erfahrung, daß man gerade schwie-
rigere und gehaltvollere Werke
unterwegs lesen kann und soll. Zu-
weilen stören uns die Mitreisenden
durch ihr Gespräch, aber viel öster
herrscht vollkommene Ruhe; oft sind
wir allein im Abteil. Besser noch
als zu Hause sind wir hier mit
uns selbst allein, denn wenn da-
heim die Familie oder die Bekann-
ten nicht auf uns drücken, so tun es
die Pslichten, die Mahnungen zur
Arbeit. Geben wir uns daheim die
Abendstunden srei, so heißt das: die

müden Stunden, und ich gestehe,
daß mir dann die Ortszeitung ost
lieber ist als Goethes „Pandora".
Aber auf der Bahn fahren wir
auch vormittags und nachmittags,
mit frischen Gehirnen und aus das
schönsts abgeschlossen von der WelL
und den Pslichten: bessere Stunden
zum Denken und Dichten und zum
Versenken in große Dichterwerke gibt
es gar nicht! Ich habe bei langsn
oder kurzen Fahrten die Gedichte
von Goethe, Schiller, Keller, Grill-
parzer, Fontane, Tennyson und An-
deren bei mir gehabt, oft auch den
„Faust", zuweilen Hefte von Plato
oder Licero, und ich versichere: wer
nicht überhaupt zum Umgang mit
hohen Geistern zu erbärmlich ist,
wird am besten mit ihnen verkehren
können bei diesem ruhigen Dahin-
gleiten über der Arbeitserde unter
uns.

Aber alles hat seinen Grund;
auch der herrschende Begrisf der
Eisenbahu-Lektüre hat Vater und
Mutter. Die Mutter ist eine sehr
verbreitete menschliche Eigenschast,
die ich höslich Bequemlichkeit nennen
will; der Vater ist kluger Geschäfts-
geist. Amsre Bahnhofsbuchhandlun-
gen sind unter allen Buchhandlun-
gen, die wir haben, die schlechtesten;
sie sind das, obwohl sie Anhängsel
einer StaaLseinrichtung siud. Ieder
andre Buchhändler hält alle guten
Bücher, wenn sie „gehen", entweder
weil er von seinem Berufe und sich
hoch zu denken das Bedürfnis hat,
oder weil der Knnde sonst zum
Konkurrenten geht. Der Bahnhofs-
buchhändler hat leider ein Monopol,
und der wahre Besitzer oder Anter-
nehmer dieser Buchhandlungen tritt
nie seinen Kunden gegenüber, son-
dern ist ein weit ab wohnender
Geschäftsmann. Ihm fällt es nicht
ein, billige Hefte von Reclam, Hen-
del oder Cotta zu führen; er fragt
bei den Büchern in erster Linie: wie-

2. Aprilhest lstO? 9?
 
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