Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI Heft:
Heft 16 (2.Maiheft 1907)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand; Bonus, Arthur: Altgermanische Prosa
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0226

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
zwar immer mundgerechter, dafür aber auch gehaltloser kochte. Ich
meine vielmehr: wer nicht gelegentlich eine Anstrengung hin-
nimmt, gern hinnimmt, um weiter zu kommen, der hat nicht er-
fahren, was uns alle verbindet, und aus ihn Rücksicht nehmen, hieße
die Äbrigen schädigen. A

G T T

Sollte man die Kunstformen nicht ähnlich wie Natursormen
betrachten und verstehen lernen?

Man glaubt heute nicht mehr viel zum Verständnis einer
Pflanze getan zu haben, wenn man die Zahl und Form der Staubfäden
in ihrer Blüte, die Gestalt der Blätter und alle ihre Besonderheiten
festgestellt und aufgezählt hat, sondern man versucht alle die einzelnen
Eigenheiten aus den besonderen Lebensbedingungen der Pflanze zu
verstehen. Man sieht sie mit ihrem ganzen Leben, mit ihrem Boden,
mit ihrer Vergangenheit zusammen, man sieht sie in ihren Notwendig-
keiten, man sieht sie als Antworttypus auf besondere Fragen der
Entwicklung; und so sieht man sie intensiver und intimer. Sollte
nicht auch für die Kunstformen, soweit man denn überhaupt über
ihren nächsten rein künstlerischen Genuß, der immer die Hauptsache
bleiben muß, hinaus sich mit ihnen beschäftigen will, sollte nicht auch
für sie dies das Fruchtbarste sein: zu verstehen, wie ihre einzelnen
Eigenheiten einerseits aus den Lebensbedingungen und -notwendig-
keiten des Ganzen hervorgehen, andrerseits zum Kunstwerk zu«
sammenstreben?

Einen derartigen biologischen Versuch will das Folgende am
Beispiel der Isländernovelle geben. Sie eignet sich dasür in besonderem
Maße, weil nicht nur ihre Geschichte abgeschlossen vorliegt, sondern
auch ihre ganze Entwicklung verhältnismäßig selbständig — ohne
stärkere Linslüsse von außen — sich vollzogen hat.

Reichlichen Anschauungsstoff bieten die beiden Bändchen des
Isländerbuchs, die der Kunstwart soeben herausgegeben hat.* Die
allgemeinen historischen Vorbedingungen, so wichtig sie auch sein
mögen, gehören doch nicht unmittelbar in unsern heutigen Rahmen.
Ich verhandle sie an anderer Stelle.** Hier soll uns in der Haupt-
sache nur beschästigen, was die Novellen selbst erkennen lassen und
was man also an ihnen nachprüfen kann.

Zunächst lassen sie überall erkennen, daß sie aus Familienüber-
lieferungen hervorgegangen sind; diese Hüllblätter, in denen sie
wuchsen, beengen häusig noch ihre farbige Kunstblüte. Wir sragen
zuerst: auf welche Weise geschah es, daß solche Äberlieserungen über-
haupt in sich selbst ruhende, sich selbst genügende, für sich selbst be-
stehende Kunsteinheiten aus ihrem Zusammenhang entlassen konnten?

Wir denken uns einen Baum. Er hat Stamm, Wurzeln, Zweige,
Blätter. Ieder dieser Teile hat seinen Zweck in seinem Zusammen-

^ Isländerbuch I Sammlung I und II. Altgermanische Bauern-
und Königsgeschichten. Ieder Band H Mk., geb. 5 Mk. Bei Lallwey.

^ Preußische Iahrbücher, Maiheft „Entstehungs- und Lebens-
bedingungen der Isländergeschichte".

^ !7Z____Kunstwart XX, l6
 
Annotationen