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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 18 (2. Juniheft 1907)
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Simmel, Georg: Venedig
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0363

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nun wie erstarrt diese Schönheit hütet, die die Lebendigkeit und Ent-
wicklung des wirklichen Seins nicht mehr mitmacht.

Ls gibt wahrscheinlich keine Stadt, deren Leben sich so ganz
und gar in einem Tempo vollzieht. Keinerlei Zugtiere oder Fahr--
zeuge reißen das versolgende Auge in wechselnde Schnelligkeiten mit,
die Gondeln Haben durchaus das Tempo und den Rhythmus gehen--
der Menschen. And dies ist die eigentliche Ursache des „traumhasten"
Charakters von Venedig, den man von je empsunden hat. Die Wirk--
lichkeit schreckt uns immerzu aus; die Seele, sich selbst oder einem
beharrenden Einfluß überlassen, würde in einem gewissen Gleichstand
verbleiben, und erst der Wechsel ihrer Empsindungen weist sie auf
ein äußeres Dasein, das diese Unterbrechungen ihrer Ruhelage ver--
ursacht. Deshalb werden wir von dauernd gleichmäßigen Eindrücken
hypnotisiert, ein Rhythmus, dem wir unterbrechungslos ausgesetzt
sind, bringt uns in den Dämmerzustand des Anwirklichen. Die Mono--
tonie aller venezianischen Rhythmen versagt uns die Aufrüttlungen
und Anstöße, deren es für das Gefühl der vollen Wirklichkeit bedarf,
und nähert uns dem Traum, in dem uns der Schein der Dinge um-
gibt, ohne die Dinge selbst. Ihrer eignen Gesetzlichkeit nach erzeugt
die Seele, in dem Rhythmus dieser Stadt befangen, in sich die gleiche
Stimmung, die ihr Lsthetisches Bild in der Form der Objektivität
bietet: als atmeten nur noch die obersten, bloß spiegelnden, bloß
genießenden Schichten der Seele, während ihre volle Wirklichkeit wie
in einem lässigen Traum abseits steht. Aber indem nun diese, von
den Substanzen und Bewegtheiten des wahren Lebens gelösten In--
halte hier dennoch unser Leben ausmachen, bekommt dieses von innen
her teil an der Lüge von Venedig.

Denn dies ist das Tragische an Venedig, wodurch es zum Sym--
bol einer ganz einzigen Ordnung unsrer Formen der Weltauffassung
wird: daß die Oberfläche, die ihr Grund verlassen hat, der Schein,
in dem kein Sein mehr lebt, sich dennoch als ein Vollständiges und
Substantielles gibt, als der Inhalt eines wirklich zu erlebenden Lebens.
Florenz gibt uns die Ahnung, daß dieselben Kräfte, die seinen Boden
geformt und seine Blumen und Bäume emporgetrieben haben, auf
dem Amwege über die Hand des Künstlers auch Orcagnas Paradies
und Botticellis Frühling, die Fassade von S. Miniato und Giottos
Kampanile erzeugt haben. Darum mag das seelische Leben, das zwi--
schen jenem dunkeln Rrgrund und diesen Kristallformen des Geistes
vermittelte, längst verschwunden sein und mag nur einen ästhetischen
Schein übriggelassen haben — er ist dennoch keine Lüge, weil in
ihm das Sein mitschwebt, das ihm seinen richtigen Platz anweist.
Nur wo ein Schein, dem niemals ein Sein entsprochen hat und
dem selbst das ihm entgegengerichtete weggestorben ist — nur wo
dieser ein Leben und eine Ganzheit zu bieten vorgibt, da ist er
die Lüge schlechthin, und die Zweideutigkeit des Lebens ist zu ihm
wie zu ihrem Körper zusammengeronnen. Zweideutig ist der Cha--
rakter dieser Plätze, die mit ihrer Wagenlosigkeit, ihrer engen, sym--
metrischen A.mschlossenheit den Anschein von Zimmern annehmen,
zweideutig in den engen Gassen das unausweichliche Sich-Zusammen--
drängen und Sich-Berühren der Menschen, das den Schein einer

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