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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 18 (2. Juniheft 1907)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0365

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verkauft hat, ja, das schrieb eine, die gegenwärtig noch, um die Ihrigen
durchzubringen, Liebesbriefe für fremde Leute, Festgedichte für Kleinbürger
und Ausrusereien für Bndeninhaber usw. verfaßt. Heute noch — und
mit bald fünfundfünfzig Iahren! Emma Flügel, die Verfasserin dieses
Buchs! . . .

Ieder unserer Leser kann dazu beitragen, daß dieser Frau geholsen
werde, denn die Erzählung, von der ich spreche, „Lüttjendörp", ist bei
Alwin Schmiüt in Leipzig nur im Kommissionsverlage erschienen, gedruckt
mit dem Gelde, das ein Freund ihrer Arbeiten dazu geborgt hat; der
Verkauf jedes einzelnen Exemplars kommt also unmittelbar der Ver--
fasserin zugute. Nur dürfen die Käufer nicht meinen, durch den Kauf
bloß „Wohltätigkeit" zu üben: Emma Flügel gibt ihnen mit dem Bande
sehr reichlich den Geldeswert zurück. Zwar, wer nach Norm und Negel
kritisieren will, kann sicher an „Lüttjendörp" manches aussetzen. Die
leichte Lesbarkeit des Buchs wird für manche gewiß auch durch das viele
niedersächsische Platt beeinträchtigt, hat dieses doch noch nicht wie das
Mecklenburger Platt seinen Reuter gehabt. Einige Stellen gehen auch
ein bißchen ins Papierene, andre ein bißchen ins Possige. Kein großes
Anglück, wo so viel Frische, so viel Humor, so viel wirkliche Kraft ist!

? Dabei handelt sich's doch sozusagen um ein Anfängerwerk, wenn „Ernst
Dahlmann" auch schon einen andern Roman geschrieben hat. Ich habe
den Eindruck, als wenn man aus diesem Buch wie durch ein Dutzend
Fenster mit überraschenden Aussichten auf mindestens noch ein Dutzend
ungeschriebener Bücher sähe, die alle etwas zu sagen haben — mit
andern Worten: als wenn noch ein großer ungeschöpfter Reichtum in
dieser Seele stecke.

Als Probe drucke ich den Eingang ab, eine Kinderszene, die
aus ihrer Heiterkeit heraus schon den Blick aus einen dunkeln Hintergrund
eröfsnet. Dem schließ ich ein paar innerlich zusammenhängende Stellen
an, die schildern, wie sich ein braves Mädel aus dem Sumpf in ihrer
Familie auf den Rat der Großmutter zu befreien beginnt, indem sie keck
selber ihrer Liebe zu einem allzu zagen Iungen nachgeht. Wie sie
tapfer weiter zn ihrem Ziele kommt, lese man im Buch. Dessen eigent-
licher Hauptinhalt dreht sich übrigens mehr als um diese Liebesgeschichte
um andrer Menschen Erleben. Hinter den zarten wie hinter den grotesken
und stellenweis burlesken Schilderungen webt immer offen oder verhalten
ein starkes Leben, gezeigt aus intimer Bauern- und überhaupt vortrefs-
licher Seelenkenntnis. Das Innere der verwachsenen reichen Tochter z. B.,
um die sich da vielss begibt, ist mit ganz ungewöhnlicher Feinfühligkeit
erfaßt und gestaltet. Aber das feine Gemütsleben karikiert sich nie zur
Sentimentalität, Emma Flügel bleibt immer natürlich und gesund. Dabei
lebt sie bei Scherz wie Ernst mit allen ihren Leuten so mit, daß sie keine
Minute lang jene Lust zum Kokettieren mit dem Leser bekommt, die ja
bei einem Schriftsteller fast immer ein Zeichen von innerer Leere ist.
Rein stofslich interessant gerade für unsre Freunde werden die Schilde-
rungen sein, die Emma Flügel von dem Einwirken der sozusagen „städti-
schen" modernen und modischen Zivilisation auf das Bauerntum in ihre
Bilder mit einwirkt.

Glück unsrer Dichterin auf den Weiterweg! A^j

T

SOH Kunstwart XX, l8
 
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