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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 24 (2. Septemberheft 1907)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0785

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ein großes Argernis und endlich — natürlich! ein Herzenskönig aus
dem Schoße der Zukunft emporstieg. Ich war damals durchaus unemp'--
fänglich für die Huldigungen verliebter Gymnasiasten, auf die sich andere
Backfische etwas zugute taten, hatte sogar in meiner Urwüchsigkeit einmal
erklärt: „Lieber junge Meerkatzen, als junge Herren!" — aber diesen
vom Schicksal bestimmten Helden sah ich doch recht gern in mystischem
Nebel vor mir herschweben. Amd wenn ich auch kein Wort von dem
ganzen Ansinn wirklich glaubte — es konnte ja vielleicht doch — später
— durch Zufall . . .

W

Wieder öffnete sich die Versenkung und verschlang Karolchen. Iahre
gingen, schwere Zeiten kamen. Wir verloren unsern lieben Vater. Nun
ward noch einmal umgezogen, dann war es aus mit dem kaleidoskopischen
Wechsel. Anser Heim wurde eng und still, und die Tage malten sich
grau in grau, bis wir allmählich wieder Lichter und Schatten sehen
und uns der ersteren freuen lernten. — Zu den notwendigen Ent-
behrungen gehörte der Mangel eines geschulten Dienstboten; die kleinen
Gänschen und gutmütigen Schlumpen, die wir abzurichten strebten,
schlugen so gar nicht ein. Man hätte die Räder der Haushaltung noch
ganz anders knarren hören, als es schon der Fall war, wenn uns der
Himmel nicht in dieser Not etwas ganz Besonderes — eine Nähmamsell für
alles — beschert hätte. Nähmarie hätte ebensogut Putz- und Scheuermarie
heißen können; sie scheute keine Arbeit — leider auch dann nicht, wenn
sie nichts davon verstand. Der Grundzug ihres Wesens war eine ge-
mütliche, dummdreiste Sicherheit, mit der sie jede Aufgabe in Angriff
nahm. Sie hatte sich ursprünglich als Schneiderin bei uns gemeldet
und mit der größten Ruhe eine Taille für mich zugeschnitten, deren
Fasson entsetzlich war. Sie setzte sich an die Wheeler-Wilson-Maschine
und verdarb sie binnen zehn Minuten; befragt, ob sie vielleicht nur
das Singer-System kenne, sagte sie ganz lustig: keins von beiden, sie
habe die Sache nur mal versuchen wollen. Nach dieser Probe beschäf-
tigten wir sie ihren Gaben gemäß unter sorgfältiger Aufsicht. Wäsche
stopfen, Flicken einsetzen und Stoßschnur annähen konnte man ihr ohne
Gefahr anvertrauen, und als das Mädchen beim Reinmachen Magen-
krämpfe bekam, rettete sie das Vaterland durch sehr geschicktes und
schnelles Zugreifen. Nur als sie Gardinen ausgemacht hatte und ihr
Werk strahlend bLtrachtete, erfaßte uns ein Schauder, und doch mußte
man ihre unverwüstliche Willigkeit anerkennen. Zu viel Lob war nicht
nötig dabei, sie besorgte es schon selbst: „Ist das nicht schön? nicht wahr,
ich bin geschickt, gelt ja?" Sie war sonst in hohem Grade anspruchslos
und so anhänglich, daß es seine Schattenseiten hatte; denn sie sühlte
sich berufen, in unserem Namen Fehde mit unangenehmen Hausgenossen
zu führen. Das streitbare Schimpfen von Hinterfenster zu Hinterfenster
verbaten wir uns zwar, aber wir konnten nicht hindern, daß die Arbeit
in ihrem Schoße ruhte, weil sie die Zunge herausstrecken oder „lange
Nasen" machen mußte. Es steckte überhaupt in dem wachsbleichen, auf-
gedunsenen Mädchen, das sie war, ein gutes Teil Roheit. Sie wechselte
ihre Wohnung, weil es zu wenig Anterhaltung in dem Hause gab.
Früher kam doch noch manchmal einer betrunken nach Hause und fiel
ein paar Stufen herunter oder der Tischler vom Nebenflur warf seine

^ 666 Kunstwart XX, 2^
 
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