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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1925)
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sch.: Von der Lüge zur Wahrhaftigkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0017

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Von der Lüge zur Wahrhaftigkeit

r^»mmer schneller von Iahr zu Iahr rotiert das Nad, immer schneller
^twandeln sich die Formen des Lebens, immer schneller wird morgen
k^lsalsch, was gestern recht war. Immer dringender wird die Aufgabe,
nicht etwa Altes, Abgetanes mit einem Totenschein zu versehen, sondern
für das heutige und morgige Leben Klarheiten und Entscheidungen zu
gewinnen. Denn das ist die Aufgabe! Es gibt nur allzu Viele, die noch
immer glauben, das Morgen werde wieder das Gestern sein, die darum
mit wahrhaften Krampfgebärden an Restchen und Fetzchen des Gestern sich
klammern, das wenige Äbriggebliebene loben, das überwältigend viele Neue
tadeln und mit alledem vergeblich wider den brausenden Strom au--
schwimmen.

Wie mit vielem anderen so steht es auch mit Lüge und Wahrhaftigkeit:
Was galt — vielleicht wenigstens galt zu mancher Zeit; doch wollen wir
gewiß nicht blind die alte Zeit loben, wer weiß woran sie litt? —> das
gilt nicht mehr; und was gelten wird, gilt noch nicht. Im gegenwärtigen
Schnittraum der Aeitalter aber ist höchste Wahrhaftigkeit zur Lüge, Lügen
fast schon zur Wahrhaftigkeit geworden.

Ein Offenäugiger kann keinen Augenblick daran zweifeln, daß dis
Lüge einen bedeutenden Teil unseres Lebens geradezu beherrscht. Auf
ganzen Lebensgebieten wuchert und blüht sie ungehemmt. Dieses Lügenwesen
beginnt in der Schule. Schüler, oft ganze Klassen solidarisch, belügen die
Lehrer in gewissen Hinsichten systematisch und fortgesetzt, ohne Gewissens-
bisse, meist auch ohne Raffinement, meist zu ihrem unmittclbaren Vorteil,
wie er sich in Zensur und Fortkommen ausdrückt; innerlich unberührt
von Mahnung und Strafe lügen sie nachher getrost weiter, einzig bemüht,
sich „nicht erwischen zu lassen", so erfinderisch wie erfolgreich. Ihr klares
Gefühl: Wir haben ein gutes Recht auf dieses „Kampfmittel». Auch das
Llternhaus, die Familie, züchtet in unzählbaren Fällen die Lüge. Auch
da wird um Vorteils willen, ohne viel Gewissen, mit Erfolg und eben-
falls im Gefühl eines Anspruchs auf das Kampfmittel gelogen. — Wie der
Iugendliche gegenüber Schule und Eltern, steht der Erwachsene gegenüber
dem Staat, sei es das Gericht, sei es die Steuerbehörde: „erlaubtes Kampf-
mittel". — iind wiederum ähnlich wuchert die Lüge im Konkurrcnzkampfe
des geschäftlichen Lebens, wo sie „offiziös" als gültige und unentbehrliche
Waffe gilt, und im politischen Leben, nicht etwa nur im internationalen
da findet man sie längst vollkommen selbstverständlich —, auch im inner-
nationalen. Am sichtbarsten tritt sie hervor in der durchschnittlichen Tages-
presse; nicht allein in Hunderttauscnden von lügenhaften, schlcchthin und
nackt unwahren Berichten und Meldungen, sondern vor allem in jenen be-
wußten Halb-Lntstellungen, Äbertreibungen, Verzerrungen, Insinuationen,
Verleumdungen, Einseitigkeiten und vor allem: Verschweigungen; der Dar-
stellungsstil der Presse zwingt den Kenner längst, sozusagen einen „Lügen-
Index" anzuwenden, das heißt: stillschweigend das Gedruckte wesentlich
anders zu verstehen als der Wortlaut nahelegt. — Das Lügen setzt sich
sort in Versammlungen und Verhandlungen. E8 kommt hinzu zu alledem


Aprilhelt ^925 (XXXVIII, 7)
 
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