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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

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Heft 9 (Juniheft 1925)
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Die Schöpferische Idee: von Rabindranath Tagore
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0129

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Die schöpferische Zdee

Von Rabindranath Tagore*

^^n emem alten Sanskritbuche gibt es einen Vers, der von den wesent»
^^lichcn Elementen eines Bildes handelt. Als erstes nennt er die
^)„riipu-kb6clüli^,die Gesondertheit der Formen. Der Formen sind viele
und vielerlei, und jede von ihnen hat ihre Grenzen. Doch wenn damit
alles gesagt wäre, wenn alle Formen ein für allemal voneinander gesondert
wären, dann würde eine furchtbare Einsamkeit in der Menge herrschen. Die
mannigfaltigen Formen müssen gerade in ihrer Gesondertheit etwas ein-
schließen, was auf ihre letzte Einheit hindeutet, sonst könnte es keins
Schöpfung geben.

Daher nennt jener Vers nach der Gesondertheit die „pramüriüni", die
Proportionen oder das Ebenmaß. Ebenmaß bedeutet inneren Zusammen-
hang, Verwandtschaft, deren Prinzip gegenseitige Anpassung ist. Ein
vom Körper losgelöstes Bein hat die vollkommenste Freiheit, eine Kari-
katur aus sich zu machen. Doch als Glied des Körpers hat es seine Ver-
antwortlichkeit gegenüber der lebendigen Einheit, die den Körper be-
herrscht, — es muß sich anständig benehmen, es muß seine Verhältnisse:
wahren. Wenn es durch irgendwelche physiologische Sondervorteile die un-
geheuerliche Möglichkeit erhielte, ellenlang über seinen Marschgefährten
hinauszuwachsen, so wissen wir, welch ein Bild es dem Zuschauer bieten
nnd welche Verlegenheit es für den Körper selbst bedeuten würde. Ieder
Versuch, das Gesetz des Gleichmaßes über den Haufen zu rennen nnd
seine unbedingte Besonderheit zu behaupten, ist Rebellion, es bedeutet:
entweder der ganzen übrigen Welt den Fehdehandschuh hinwerfen oder
gänzlich abgesondert bleiben.

DasselbeSanskritwort ,prumününi", das in der Asthetik „Proportionen"
bedeutet, bedeutet in der Logik die Argumente, wodurch die Wahrheit einer
Behauptuug bewiesen wird. Alle Wahrheitsbeweise sind Zeugnisse von
Zusammenhang. Die Einzeltatsachen brauchen solche Pässe, um zu zeigen,
daß sie keine aus der großen Gemeinschaft Ausgeschlossene, kein Bruch in
der Einheit des Ganzen sind. Der logische Zusammenhang, der sich in einem
Verstandessatz ausdrückt, und der ästhetische Zusammenhang der Propor-
tionen in einem Kunstwerk stimmen beide in einem Punkte überein. Sie
geben uns die Versicherung, daß die Wahrheit nicht in den Tatsachen,
sondern in der Harmonie der Tatsachen liegt. Diesen Grundsatz aller Wirk-
lichkeit meint der Dichter, wenn er sagt: „Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit
ist Schönheit."

Gleichmaß, das von Verbundenheit zeugt, ist der Ausdruck schöpferischer
Ideen. Eine Wenschenmenge ist unzusammenhängend, doch in einem
marschierenden Soldatenheere wahrt jeder einzelne in seinen Bewegungen
sein räumliches und zeitliches Verhältnis zu den andern, wodurch er mit
dem ganzen großen Heere eins wird. Doch dies ist nicht alles. Ein
Heer hat als inneres Prinzip die eine schöpferische Idee des Feldherrn.
Ie nach der Art der beherrschenden Idee ist ein Werk entweder ein Kunst-

* Aus dem Englischen übersetzt von H. Meyer-Franck.

Iunlheft ,Y2S (XXXVIII, s»

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