Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1925)
DOI Artikel:
Die Schöpferische Idee: von Rabindranath Tagore
DOI Artikel:
Bemerkungen über Willenserziehung und Vorstellungsleben
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0133

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
elektrischen Funken im Laboratorium. Der Schmerz auf dieser Ebene steht
im Einklang mit der großen Liebe, denn indem er die Liebe verletzt, offen-
bart er die Rnendlichkeit der Liebe in ihrer ganzen Wahrheit und Schön-
heit. Dagegen ist der Schmerz, den ein Geschäftsbankrott mit sich bringt,
unharmonisch, er tötet und verzehrt, bis nichts als Asche übrigbleibt.
Der Dichter singt weiter:

Wie's mit Gewalt hervorbricht aus dem Laub!

Ewige Leidenschaft!

Ewiger Schmerz!

Von der ewigen Wahrheit des Schmerzes haben jene vedischen Dichter
gesungen, die da sagten: „Aus der Freude ist die ganze Schöpfung ent-
sprungen." Sie sagen:

„Ln tnpus tuptVL snrvLln usrsLtL )Lcl idLin lrincL"

„Gott schuf alles, was da ist, aus der Glut seines Schmerzes."

Das Opfer, das die Seele der Schöpfung ist, ist Freude und Schmerz
zu gleicher Zeit. Hierüber singt ein bengalischer Dorfmystiker:

„Meine Augen ertrinken im Dunkel der Freude,

Mein Herz schließt wie ein Lotus seinen Kelch im Lntzücken der dunklen

Nacht."

Dies Lied besingt die Freude, die tief ist wie die blaue See, endlos wie
der blaue Himmel, die die Herrlichkeit der Nacht hat und die strahlenden
Welten in den feierlichen Frieden ihres grenzenlosen Dunkels einhüllt; es
ist die unermeßlich tiefe Freude, die alle Leiden in sich verschlingt.

Ein iudischer Dichter des Mittelalters singt nns von der Quelle seiner
Inspiration, in Form von Frage und Antwort:

Wo waren deine Lieder, mein Vogel, als du im Nest deine Nächte verbrachtest?
Fandest du nicht dort deine ganze Freude?

Was schweift deine Sehnsucht nach dem Himmel, dem grenzenlosen?

Der Vogel antwortet:

Im engen Neste hatt' ich meine Freuden,

Im Grenzenlosen fand ich meine Lieder."

Ls ist die Aufgabe der Poesie, die Idee aus der Lnge des Alltags
zu befreien und ihr die Schwingen der Freiheit zu geben. Der Ehrgeiz
Macbeths und die Lifersucht Othellos würden in einer Gerichtsverhand-
lung höchstens Sensation erregen, doch in Shakespeares Dramen werden
sie emporgetragen zu den leuchtenden Sternen, wo das Herz der Schöpfung
pocht, in ewiger Leidenschaft und ewigem Schmerz.

Bemerkung über Willenserziehung und Vorstellungsleben

ifrig wie nach der Quadratur des Kreises hat beflissener Verstand ge-
iV^fragt: Können wir wollen? Müssen wir nicht erleben, was uns
^»^bestimmt ist? Da alles uns verursacht und aus zwingender Ilrsache
eindeutig ableitbar scheint, wo bleibt Raum zu Wahl nnd Selbstbe-
stimmung? Spitzfindigstes und Scharfsinnigstes ist darüber geschrieben
worden, und haushoch hebt sich eine Literatur, die vom Einbrecher und
Raubmörder bis zum blutsaugerischen Sklavenfürsten all und jeden, all
und jedes „verstehen", „entschuldigen" und von Verantwortung frei zu
sprechen lehrt. And doch! ein unabtötbares Gewissen sagt, wenn nicht
das Gegenteil, so doch ein Anderes.

Quadratur des Kreises, Perpetuum mobile, gehört dic Willensfreiheit
 
Annotationen