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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

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Heft 9 (Juniheft 1925)
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Bemerkungen über Willenserziehung und Vorstellungsleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0134

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vrelleicht in diese Reihe? in die lange Reihe der vergebens, oder zu-
mindesr s o vergeblich gestellten Fragen? Sollte es so liegen, daß sie keine
Mntwort hat, solange wir sie nicht sanfter anfassen und in eine weitere
und menschlichere Betrachtung hineinziehen? Wir neigen so leicht zu abso--
luten Fragen und heischen so gern absolute Antworten. „Gibt es Freiheit,
zu wollen — ja oder nein? Wenn ja, dann gibt es Schuld, echtes Straf--
recht, Allverantwortung und alle Folgen davon. Wenn nein, dann laßt
uns tout comprendre et tout pardonner!" So wird geredet. Aber nie
und nirgends wird so gelebt. Die Grundauffassung aller Vergesellschaf-
teten liegt so verborgen wie am Tage und ist diese: Zuweilen ja, zuweilen
nein! Vieles ist Zwang, manches ist Freiheit! Einer vermag willentlich
mehr, ein Anderer weniger! und so geht's fort mit verschwommenen Aus-
sagen, mit unabgegrenzten Halbentscheiden, mit einem ständig wieder-
kehrenden Teils-Teils und Einerseits-Anderseits. Gerade auf schwanken-
dem, nie auf festem Gruude sprechen wir Urteil und lassen wir „Recht"
sprechen, handeln und entscheiden wir. Ilnd es ist längst nicht mehr ge-
wagt, zu sagen: Dabei wird es bleiben!

Rmso dringender aber wird die Aufgabe, nicht etwa: endlich eindeutigen
Entscheid der Ia-Nein-Frage zu ergrübeln, sondern: einiges auszugrenzen,
was uns so oder so frei steht. Darüber aber gibt nicht psychologisches
Experiment, wie man es neuerdings angestellt hat, und nicht abstraktes
Denken, wie man es seit Iahrhunderten angestellt hat, Auskunft, sondern
Erfahrung und Bekenntnis.

Kann der Mensch wider seine Triebe an? Die Frage scheint fast
dümmlich, so sehr hat es den Anschein, als sei sie lüngst endgültig be-
antwortet. Ia, er kann! so antworten Alle, denen im hergebrachten Sinne
moralische Erziehung ein Anliegen ist. Mindestens und vorsichtiger: „Er
muß es können, denn sonst wäre der Mensch ein haltloser Spielball ge°
wisser Mächte, die noch milde bezeichnet sind, wenn man sie »schlimm«
nennt, die aber vielleicht eher noch die Kennzeichnung des »Dämonischen«,
ja des »Tierischen« verdienen. Mindestens also müssen wir uns so ver-
halten, als ob wir der Triebe herr werden könnten; denn ohne dieses
Als ob würden wir uns sittlichem Zusammenbruch preisgeben." Solcher
Auffassung nun stehen gewichtige Tatsachen zur Seite. Der unüber-
windlichste Trieb scheint der nach Nahrung, Trank, Wärme, nach Er-
haltung des leiblichen Lebens. Aber haben wir den Hungerstreik, die
Selbsttötung kraft heroischen Willens, nicht gerade in der letzten Zeit
oft genug erlebt? Oder ist der Geschlechtstrieb etwa unüberwindbar?
Leben nicht Tausende in jedem Abschnitt der Geschichte willentlich ent-
haltsam? Oder man denke des Ausdrucktriebes: nicht allein die Trappisten
verbieten sich ihn. Freiheittrieb, Geltungtrieb, Machttrieb — wie Viele
unterdrücken diese mit Willenskraft in sich!

Das sind Beispiele. Aber was besagen sie? Ich glaube, sie besagen,
so oft und so tief man den einzelnen Fall auch prüfe, in aller Regel
dieses: Kein wirklicher Trieb ist wahrhaft überwiudbar, es sei denn, ein
andrer wirklicher Trieb helfe, ihn zu überwinden. Der „Wille" allein
vermag es nicht. Nur wenn der Mensch sich so einstellt, daß ein Trieb
wider den andern sich einsetzt, so daß Trieb gegen Trieb kämpft, gelingt
ihm die Äberwindung. Ist es aber so, dann ist alle Unterweisung und
Erziehung wirkunglos, welche nur den „Willen" zur Beherrschung oder
Äberwindung der Triebe aufruft, anstatt das gesamte Triebleben ins
 
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