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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1925)
DOI Artikel:
Trentini, Albert: Deutsches Wesen
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Bruns, Marianne: Reise in Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0191

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Berlin

Trotz all dieser Nebensächlichkeiten aber: man beginge ein anfgelegtes
Anrecht, wenn man dieses Buch nicht als eines der anregendsten bezeich-
nen wollte, welches die neue geistige Orientierung in Deutschland uns
geschenkt hat. Es offenbart den genialen Mut, über Hürden von über-
lieferten Hindernissen schwebend hinüberzuturnen. Es zeugt von der ge-
wissenhaftesten Selbstvertiefung eines heutigen Deutschen in das Pro-
blem „deutschen Wesens" schlechterdings. Und es hat — auch wo nur
ungläubig gestaunt, nicht aber geglaubt werden darf — die beglückende
Weite eines wahrhaft Äberschauenden. Kein originaler Schöpfer zwar
ist dieser Mann auf dem Turm; aber ein originaler Methodiker. Auch
nicht die Praxis des gemeinen Lebens trifft er, so daß eine „Nutzanwen-
dung" des Werkes kaum in Frage kommt. Aber, indem er die krausen
Offenbarungen des Lebensgesetzes im Menschen deutscher Sonderart er-
spürt, wirkt er weit über die Räume alltäglicher Praxis hinaus. Nnd weil
er „deutsches Wesen", in unbarmherzig steilem Aufbau seines Zielfeldes,
einzig als tätigstes Kämpfenwollen um immer breitere
und vollere Ganzheit, um inrmer inehr Welt und Gott aus-
deutet, und diesem Vorwärtswillen eindeutig jedes Recht auf Stillstand, Be-
quemlichkeit und Faulheit abspricht, — deshalb ist dieses Buch auch ein
Werk für das ganze deutsche Volk, obwohl es heute noch nur zu seinen nach-
denklichsten Söhnen zu sprechen vermag! AlbertTrentini

Neise in Deutschland

er nicht um Berlins willen nach Berlin fährt, sieht nur, was neben-
v ^her im Fluge erblickt werden kann. Ich sah — seit man die Stadt

im Auto durchkreuzt, sieht man das, greift es förmlich mit
Blicken, was man vorher nur wußte —, daß Berliu groß ist. Endlos
durchkeilen die Asphaltböden, spiegelblank gescheuert vou Autoreifen, die
endlosen HLuserschächte. Dieses Viertel so groß wie Hameln, dieses wie
Bautzen, wie Braunschweig, wie Iena, wie Kattowitz. Städte, die Pro-
vinzen beherrschen könnten, sind hier zu einer Stadt, zu „Berlin", zu-
sammengeklebt. Berlin ist nicht organisch gewachsen, sondern willkürlich ge-
macht. Es trägt alle Spuren davon und von Schlimmereni. Berlin — Ver-
zeihung — stinkt! Nicht auf natürliche Weise übelriechend nach Mist und
Salatresten, sondern nach den elegant-giftigen Exkrementen technischer Ge-
schöpfe. Der Tiergarten ist machtlos gegen den zähen Brodem.

Kellner und Portiers, Schalterbeamte und Passanten sprechen ein
Deutsch, dessen knallige Protzenhaftigkeit, Geschmacklosigkeit, Seelendürr-
heit betäubend ins Gesicht schlägt. Bleibt man unbetäubt, verlangt un-
beirrt Komplizierteres, so zeigt sichdennochVerständigkeit, freundliche Bereit-
schaft. Das Mittagessen in einem bürgerlichen Restaurant ist so gänzlich
banal und lieblos zubereitet, so nur, aber auch nur sättigend, daß man sich
entsetzt fragt: wie leben die Menschen, die solches Essen täglich schlingen?
Wie sind die Frauen beschaffen, die solches Essen herstellen, oder deren
Männer es hinnehmen? Gibt es keine warmen, phantasievollen, von innen
her geschmackvollen Frauen hier? Ein Osterrcicher behauptet, während eines
Viertelstundenweges auf der Friedrichstraße deren keine gesehen zu haben.
Die Frauen, die in Hundekehle Kasfee tranken, waren falsch und grell
angezogen. Viele davon hatten sich geschminkt, aber sie verstauden nichts
vom Schminken, die Schminke klebte unzugehörig auf ihnen. Auch

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