Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1925)
DOI Artikel:
Vom Heute fürs Morgen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0227

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vom Zeute

fürs Morgen

An der Schwelle der Erkenntnis

s war ein Gelehrter, der zermar-
terte lange Iahre Tag und Nacht
sein Gehirn, um das Geheimnis
„Mensch" zu ergründen. Alles Shm-
bolische und Lraumhafte der Dichter
verachtete er, verlangte Klarheit und
Wahrheit in allem, darum ärgerte er
sich über gewisse Bilder, die sich ihm
mit der Zeit des Nachts, zuerst im
Traum, dann sogar in schlaflosem Zu-
stand aufdrängten, konnte sie aber mit
all seiner Willenskraft nicht verscheu-
chen. Immer häufiger sah er scheuß-
liche Fratzen vor sich, garstige Tiere
mit fletschenden Zähnen und gierig
heraushängender Zunge; schillernde
Schlangenleiber und allerlei Gewürm
wanden sich dazwischen.

Er wußte längst, daß er gegen die
Visionen machtlos sei, darum gewöhnte
er sich an sie, begann, sie mit wachsen-
dem Interesse zu studieren, und eines
Lages mußte er sich gestehen, daß er
die nächtlichen Bilder nicht mehr mis-
sen mochte, ja, er fühlte ein Bedauern
darüber, daß die Zahl der häßlichen
Geschöpfe allmählich abnahm, er
wünschte die fehlenden so lebhaft her-
bei, wie er die ganzen Erscheinungen
früher zu verjagen gesucht hatte. Sein
Wille war aber auch jetzt umsonst,
die vorher so vielgestaltigen Bilder
wurden immer einfacher, bis ihm zu-
letzt nur noch ein einziges Tier er°
schien, das er nun freilich umso ge°
nauer betrachten konnte.

Indem er dies tat, bemerkte er,
daß in dem einen Ungeheuer das We-
sen aller verschwundenen zusammenge-
flossen war, und da ihm das Tier
immer näher kam, sah er, wie sich
dessen leuchtendes Auge aus winzigen
Schlangen und in den schönstcn Far-
bcn prangendem Nngeziefer jeder Art
zusammensetzte. Dem Betrachter schien
es jeht, als sei ihm das Scheusal
dicht vor das Angesicht gerückt, ein
Grausen überkam ihn, der Forscher
aber überwand es, hielt in höchstem
Erkenntnisdrang die Augen offen und
bemerkte nun deutlich, daß eine dünne

Scheidewand zwischen sich und dcm

Tier sein müsse.-

And als sich beim tagenden Mor-
gen der Gelehrte erhob, da wußte er,
daß jene Scheidewand ein Spiegel war.
— — — Nur noch einmal bestieg er
seinen Lehrstuhl, er tat es, um Ab-
schied von seiner unangenehm über-
raschten Gemeinde zu nehmeu; und
die Hoffnung sprach er aus, daß bald
einer kommen möge, dem zu der Kraft,
die Wahrheit zu erforschen, auch der
Mut gegeben sei, sie ehrlich zu be°
kennen.--A. v. Berg

Revolution im Theater
gu Takroff« Sastsptrl

^UM zweiten Male durchreist Tai-
^)roff, der russische Theatermeister,
Mitteleuropa und führt nun acht
Inszeniernngen vor. Zum zweiten
Male wird er die Theaterleute vom
Schauspieler bis zum Kritiker, vom
Negisseur bis zum Orchesterleiter in
allen Wesenstiefen aufgeregt, aufge-
wühlt haben, wenn diese Zeilen er-
erscheinen.

Denn Tairoff, von Sowjetrußland
her mit Paß und Visum herübcr
gastierend, ist der Fahnenschwinger,
Fanfarenbläscr, Herold und Vorkämp-
fer einer Theaterrevolution, die iu
scinem Vaterland organisch erwachsen
konnte, für Deutschland aber nicht
mehr und nicht weniger bedeutet als
einen Weckruf, eine Verlockung, ein
Angehetztwerden, ein „Problem".

Was man am schärfsten spürt, ist
der Hauch der Ncvolution. In Ruß-
land, so wird anderweit berichtet, hat
ein Stil despotisch geherrscht: der rea-
listisch-naturalistische. Wie er eigentlich
die russische Dichtung eines 'ganzen
Iahrhunderts durch und durch gcfärbt
hat, so soll er als Maßstab undGrund-
zug aller Kunst der russischen bürger-
lichen Gesellschaft zur Aberlieferung,
bald genug zum Zwanggesetz der
Zeit geworden sein, zu Fessel und
Plagc.

Tairoff hat diese Fessel gesprengt.
Das steht nicht nur in seinem glän-
zendcn, über die Maßen lescnswerten

198
 
Annotationen