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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1925)
DOI Artikel:
Hoffmann, Paul Th.: Die Vereinigten Kirchen der Erde, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0110

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Die vereinigten Kirchen der Erde

ii

^L^ant gingvomMenschenausderErdeaus. Er stellte das
V^allen Menschen gemeinsame Denken fest, die apriorische Anlage un-
^^serer Sinnen- und Verstandestätigkeit. Er zeigte zugleich, wie allein
der Mensch, ein Geschöpf der Erfahrung, in Raum und Zeit als Sinnen-
wesen eingegliedert, mit dem ihm gegebenen einzigartigen Medium der
Verstandesfunktionen sich in bestimmter Weise den Weg durch die Welt
bahnen kann, von der Erde zum Himmel und weiter auf der Erde in deren
letzte göttliche Gesetzmäßigkeiten.

Willens- und gefühlsmäßig aber zeigte Kant die dem Menschen ein-
geborene Anlage, die ihm von sich aus, sofern er Geschöpf seiner plane-
tarischen Welt ist, den Weg zu höheren Sphären weist: er zeigte diese An-
lage in ihrem gesetzmäßigen Wirken auf und formulierte das Gesetz, in-
dem er den kategorischen Imperativ aufstellte: „Handle so, daß die Ma-
xime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Ge°
setzgebung gelten könne."

Einer allgemeinen Gesetzgebung — das besagt bei Kant: eine Gesetz-
gebung, die der Würde und Entwicklung der Menschheit, ihrem Streben
zur Vollkommenheit entspricht. Was Kant formulierte, war die Be°
stätigung jener Lebenshaltung, die aus der neuen Orientierung des Ichs
zur Uuterwelt stammte. Der mittelalterliche Mensch hatte den heroischen
Weg zu Gott aufgestellt: jähe Vernichtung alles Irdisch-Sinnlichen, um
zu Gott, dem Äbersinnlichen zu gelangen. Der Mensch, der auf der Erde
seinen Sitz, sein Dasein hat, der Mensch, dem sich der Weg nicht mehr im
Sinn eines einmaligen schnellen Fluges aus dem Reich dieser Welt, in
das Reich „nicht von dieser Welt" darstellt, der Mensch von Heute hat
den organischen Weg in die höheren Sphären gefunden!

Dem Wesen nach freilich war dieser organische Weg auch im Mittel-
alter ungewußt da — sonst wäre die Menschheit auf der Erde ausgestorben.
Aber die Natur war mächtiger als alles heroische Wollen der Christen,
die aus dem Irdischen in den Himmel strebten. Nur wenigen gelang es,
das erhabene Ziel, Vereinigung mit der Gottheit nach Äberwindung der
Erde, herbeizuführen. Das sind die großen Heiligen. Die Durchschnitt-
sterblichen dagegen blieben Geschöpfe der Natur. Sie kanntcn wohl
die Forderung jener Epoche; aber sie machten mit deren Ideal nicht
ernst. Sie lebten dem Göttlichen als Menschen entgegen, als Erdengeschöpfe:
Das sind die ehrbaren Handwerker, Bauern, Kaufleute, die unbewußt den
kategorischen Imperativ erfüllten, sosern sie nicht überhaupt abseits des
christlich-kirchlichen Ideals als Weltkinder und dann oft egozentrisch und
unsittlich lebten. Der kategorische Imperativ und Christi Gebot: „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst" sind einander wesensverwandt und doch
von Grund her verschieden: denn die christliche Forderung hat als seelischen
Hintergrund eben das „Reich nicht von dieser Welt"; die Forderung Kants
aber scheidet alle Metaphysik aus und nimmt den Menschen lediglich
als ein Geschöpf der Erde.

Der Mensch, der diese Art Lebenswissen, Lebensgefühl, Lebenshaltung
in unseren Zonen bewußt und vorbildlich verkörperte, war Goethe. Schiller,
der dem Reich der Ideen zustrebte, war immer uoch mehr Mensch des
„heroischen Weges" (im Sinne Platons, nicht aber des Mittelalters).

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