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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1925)
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Illing, Werner: Musik
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0325

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bekümmertheit diese Forderung und schreibt in reiner musikalischer Wesens-
form.

Die alte Oper war dieser Beziehung gegenüber feinhöriger als die
moderne. und zwar durch das Mittel des Rezitativs. Handlung und drama-
tischen Fortgang verlegt sie in den halbmusikalischen Sprechgesang. In
der Arie vermag sie dann die zuständliche Empfindüng dem musikalischen
Urgefühle weitestgehend anzunähern.

Die musikalische Wahrheit ist unabhängig vom Ethos, überhaupt von
tragischen oder antitragischen Stimmungen der menschlichen Seele. Die
Kundschaft von solcher Rnverbundenheit mit den Seins-ängsten des Menschen
gibt in ungeheuerlicher Größe und Erhabenheit die musikalische Schöpfung
von Ioh. Seb. Bach. In seinen glücklichsten Eingebungen, in den Orgel-
konzerten und Klavierkonzerten, im Wohltemperierten Klavier usw., ist lkeine
Einmischung menschlicher oder gar gedanklicher Leidenschaft mehr zu spüren.
Seine Musik rührt nichts mehr, aber sie macht weise; sie regt nicht zuTaten
an, sie stärkt nicht das sittliche Bewußtsein, aber sie beweist sinnvoll die
Beständigkeit der Kraft. Iener Kraft, die weder einseitig die geistig-erhal-
tende, noch die körperlich-verwandelnde genannt 'werden darf. Iener Kraft,
die im Rhythmus der Ewigkeit den Abfall ins Zeitliche verwehrt, die in
melodischer Spannung zeitlichen Wandel verewigt, die in der tzarmonie
die bekannten und unbekannten Dimensionen balanziert. Musik bekeunt
den sinnvollen Ausgleich der Weltendynamik. In ihren reinsten Offen-
barungen wendet sie sich ab von jeglichem Willen zu 'Erlösung und Be-
friedung. Sie erstrebt keine Läuterung von ünwahrhaften zu wahrhaften
Tugenden. Sie ruht in sich, als erkennbares Maß der Weltbalance. In-
sofern, abseits von Gut und Böse, ist sie die Objektivierung des ästhetischen
Prinzips.

Wer von dieser Erwartung her Musik verstehen lernt, der gewinnt den Sieg
über den erbitterten Feind tätiger, fruchtbarer Wirksamkeit, über den tragi-
schen Ankläger von der Vergeblichkeit der irdischen Geburt. Ihn stärkt kein
Sittengesetz, das in der nächsten Anflut des Begehrens lächerlich versinken
wird, oder ihn zerinalmt; ihn hebt die Anschauung des polyphonen Welt-
umspiels zur Würde selbstgläubiger Kraftverwaltung.

Werner Illing

Lose Blätter

Aus Wilhelm von Scholz' DichLungen und Schriften

Michelangelo und der Sklave

ichelangelo war als Knabe trotz oder vielleicht auch gerade wegen
R / seines unschönen, fast häßlichen Äußeren eitel und viel mit der eige-
'^^'U'nen Person beschäftigt, stand oft vor dem Spiegel, um an seinem
Anzug zu bessern, oder betrachtete sich, wenn er einmal übernächtig und
blaß aussah, auch ängstlich und hypochondrisch. Da hatte sein Vater den
Spiegel aus der Kammer des Iungen entfernt. Das mag den angehenden
Künstler erst verdrossen und recht zum Ungehorsam gereizt haben, war aber
allmählich zu einem fast abergläubischen Zwang für ihn geworden, den er
nur die wenigen Male überwand, wo er sein eigenes Bildnis schuf, fast
mit Widerwiklen schuf. Das In-den-Spiegel-Sehen hatte sich für ihn mit

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