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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1925)
DOI Artikel:
Müller, Hermann: Deutschland im Querschnitt
DOI Artikel:
Trentini, Albert: Was wird werden?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0163

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und opferwillig lebt und kämpft, wird auch die Gefahr erkennen, die
darin besteht, daß sie von den eigensüchtigen alten Mächten, sei es des
Kapitalismus oder des Marxismus, vor den Wagen gespannt wird. Amd
sie führt —schon heute in einer großen und verbreiteten Iugendbewegung —
den Kampf gegen den Rationalismus dieser Anschauungen. Ihre Hände
sind rein, selbst da, wo sie mißleitet und mißbraucht wird. Man kann
dieser Iugend, in der ein geistig-heroisches Lebensideal herrscht, die Zukunft
Deutschlands anvertrauen. Sie wird Deutschlands Geschicke gestalten, wenn
die alten Mächte abgetreten sind. Hermann Müller

Was wird werden?

er denn, in dieser chaotischen Zeit, stellt diese Frage nicht?

V^Warum aber frägt Keiner zuallererst: was ist in den letzten Iahren

geworden? Stünde dies nämlich fest, dann müßte es doch möglich
sein, zum mindesten die Umrisse dessen zu bestimmen, was werden kann?
Oder — ist etwa Nichts geworden in den letzten Iahren? Gott behüte! Ieder
wird, trübselig oder erfreut, bekennen: sogar sehr Vieles! Was? Dies aller--
dings ist schon wieder schwieriger zu sagen! Man fühlt, daß man die unzäh--
ligen Erscheinungen dieses Gewordenseins, die einander heillos wider--
sprechen, auf einen Generalnenner bringen müßte. Aber — wie?

Vielleicht, indem man frägt: wie ist es vorher gewesen? Bevor nämlich
jenes „sogar sehr Viele" geworden ist? Gewiß, auch um diese Frage beant--
worten zu können, muß man das Auge streng ausschließlich auf das
Ganze richten, und nicht auf das Einzelne. Tut man dies aber, — sieht
>man dann nicht sofort ein, daß es bis vor ganz kurzer Zeit so gewesen ist,
daß auch der überdurchschnittliche Europäer kein Gesamtbild von der Welt
besaß, sondern nur eine Summe unzusammenhängender Teilbilder von
ihr? Man ist gewöhnt gewesen — so könnte man sagen —, niemals das
Ganze, sondern immer nur Teile, — niemals die Welt, sondern iminer nur
Gestirne oder Gestirnsysteme, Erdteile, Völker, Staaten, Zivilisationen und
Kulturen von Völkern usw. zu sehen, zu denken, zu fühlen, zu wollen,
und, natürlich, auch dementsprechend zu handeln. Auseinander
geschaut, gedacht, gefühlt, gewollt und getan hatte man diese Welt! Was
daran gar so Schlimmes gewesen sei, frägt man? Die Wirkung war
schlimm! And wie schlimm! Denn sie bestand ja nicht nur darin, daß
ein solcher Europäer anstatt des Totalbilds von der Welt nichts als Teil-
bilder — Bildchen neben Bildchen — in seinem Geiste drin hatte. Son-
dern in etwas viel Gefährlicherem! Ein derartiger Geist nämlich bevor-
zugt, liebt, ja vergöttert — aus purem natürlichem Egoismus! — unter
allen Teilbildern eben dasjenige, welches ihm leiblich (weil er selbst darin
sitzt) und geistig (weil seine Eigenart sich von ihm nährt) das — nächste ist.
So daß denn nicht sosehr Teilbild neben Teilbild, vielmehr sein eigen-
nächstes g eg en die anderen in ihm drinnen stand,- Partei gegen Partei,-
er selbst, sein erlauchtes Ich, gegen alle anderen! Merkt man nun etwas?
Begreift man bereits, daß damit nicht nur die Zerschlagung der Welt
in unzusammenhängende Fetzen und Brocken gegeben war, sondern auch
das viel verhängnisvollere Abel: die Entstehuug der Begriffe „Mein" und
„Dein" in jenem einander wild ausschließenden Sinn, daß ein solcher
Europäer sein eigen-nächstes Teilbild eben als das „seine" fanatisch zu
bejahen, behaupten und verteidigeu, alle anderen hingegen, weil diese
 
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