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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

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Heft 10 (Juliheft 1925)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0228

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Buch „Das entfesselte Theater" (Kie-

penheuer, Potsdam) geschrieben, davon
zeugt sein Theater jeden Augenblick
unmittelbar. Es hallt förmlich darin
immerfort der metallene Klang des
Augenblicks nach, da die Tradition
krachend zerbrochen wurde, und in das
russische Theater plötzlich Groteske und
Narretei, Farbrausch und Klanglust,
Körperbelebtheit und Bildkunstfreiheit
einströmte, da also Phantasie,

Phantasie, Phantasie ihre Banner auf-
pflanzte.

Endlich war es erlaubt, statt der
obligaten Normalbartform einen

blauen Spitzbart zu zeigen. Statt
eines Durchschnittzimmers auf Grund
quälend genauer Beobachtung einen
drückenden oder herzdurchhellenden,

heiteren oder geisterstarrenden Raum
aus freier Phantasie zu gestalten. Statt
eines Alltagkostüms eine Kleidung zu
wählen, die kraft innerer Vision das
Wesentliche des Austritts oder der Ge--
stalt schlagend ausdrückt. Statt des
ausdruckbeengtcn Gesprächs, statt der
erfahrunggebundnen Unterhallung die
ganzeFüllevonBewegung,Gebärde,Laut,
allseitig ausdruckstarker Wesenheit ins
Spiel einzusetzen. Spiel war end-
lich das Theater, das so lange um°
regelte Darstellarbeit gewesen war.
Lustig flatterten im Winde die Wim-
pel der künstlerischen Freiheit! Im
entfesselten Theater spielten, phantasie-
getrieben, freie Kräste. . . .

Diese von Grund auf russische Ent-
wicklung, wer möchte es bezweifeln,
hat alsbald die Ziellinie überrannt.
Man hat sich frei gemacht vom Terror
der Aberlieferung und damit dem The-
ater zurückerobert, was des Theaters
war; man hat sich gleich mit frei ge-
macht von dcn Geboten der Dichtung
und damit dem Dichter geraubt, was
von je des Dichters war. Die stärkste
Tairoffsche Aufführung, die ich sah,
war die der „heiligen Iohanna" von
Shaw; eine wahrhaft zündende Auf-
führung auf einem räumlich-bildlichen
Hintergrund von packender, intensivster
Sachlichkeit, in überwältigenden Mas-
ken mit einem blutvollen, toll-leben-
digen Spiel unter der geistreichsten
Regie der Erde. Indcs zweifle ich
nicht, zumal ich die vollkommen, bis
ins Letzte davon abweichende Londoner

Aufführung, die Shaw gebilligt hat,
gesehen habe, daß die geniale, überi-
zeitliche Dichtung des großen Iren
durch Tairoff beinahe entstellt, jeden-
falls nicht in ihrem eigentlichen Wesen
getroffen und theatralisch recht gepackt
worden ist. Für ihn ist die Dichtung
mehr ein Anlaß, sein Theater zu ent-
falten, nicht aber dient sein Theater
treu und sachlich der Dichtung.

„Die Aufgabe des Theaters ist eine
gewaltige und selbstherrliche: es muß
— unter Benutzung des Werkes (des
Dichterwerkes! D. V.) seinen eigenen
szenischen Absichten entsprechend —,
ein neues und eigenartiges Kunstwerk
schaffen." So schreibt mit voller
Aberzeugung Tairoff selber. Er fügt
hinzu, er müsse eben das Gedichtete
hiezu „entstellen"; übrigens suche er
zwangläufig seinen „Stoff" vielfach
außerhalb der bestehenden dramati--
schen Literatur, da ja nicht von der
Literatur, sondern vom Meisterschau-
spieler das neue, echte Theater ge°
schaffen werde.

Solche Grundsätze, solche Aberzeu-
gungen laufen genau entgegen den in
Deutschland beinahe unumschränkt
herrschenden. Wohl ist es wahr, daß
die allgemeine Wendung der Geister
vom Betrachterischen zum Willenhaf-
ten, vom Lebensabbild zur Lebensge-
staltung, von der Passivität zur Ak-
tivität, von der Reizkunst zur Aus-
druckkunst auch deutsche Theaterleute,
ob es nun Martin, Iessner, Viertel
oder Hartung war, getragen hat zu
einem „neuen Theater", mindestens zu
dem Versuch, das Theater mehr auf
sich zu stellen und vom ergebenen
Wortdienst zu erlösen. Und so be-
greift man Tairoffs Vorschritt auch
von uns aus wohl. Aber wie die poli-
tische russische Revolution die deutsche
an Tiefgang und Leidenschaft um das
Vielfache übertraf, so überspriugt Tai-
roff alle deutschen Theaterrevolutio-
näre um Unabmeßbares. Kein Deut-
scher hat es gewagt, sich vom Drama-
tiker zu entfernen wie der Russe; es
wäre auch keinem gut bekommen. Die
deutsche Sffentlichkeit hat schon die
bloßen Versuche in dieser Richtung
herzlich kühl aufgenommen, und jetzt
bereits tritt überall der Rückschlag
auf. Theaterentwicklung findet nicht
 
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