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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

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Heft 8 (Maiheft 1925)
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sch.: Ostasiatische Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0095

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werden nun als solche erfaßt und erforscht; Hunderte von schöpferischen
Persönlichkeiten sind uns mit Namen und Geschichte bekannt geworden;
man unterscheidet, vielleicht zu ungestüm, doch auf Grund von Gründen,
Perioden und Stile; die Zahl der ostasiatischen Werke und der Bild--
wiedergaben nach solchen Werken ist in Europa auf das Hundertfache ge-
stiegen; man kann heute, was man damals nicht konnte: in europäischen
Museen wandeln, europäische Bücher durchblättern und dabei mit jedem
Atemzug die geistige Luft des fernen Lrdteils einsaugen.

Wer das zuweilen tut, muß wohl einen entscheidenden Wandel seiner
gesamten Anschauung von Kunst erfahren. Auch nach andern Richtungen
hin hat sich unsere Kunst-Welt-Anschauung bedeutsam erweitert in den
letzten dreißig oder fünfzig Iahren. Wir haben die vorgriechische, vorder-
asiatische, die ägyptische, die byzantinische, die nordische Kunst kennen ge-
lernt und als stärksten und wichtigsten Eindruck die Kunst der primitiven
Bölker. Schon dadurch ist unser Weltbild unermeßlich erweitert und unab-
sehbar vertieft worden. Große Fragenkreise verschoben sich, neue Antwort-
komplexe tauchten auf. Wie überhaupt Kunst entstanden sei, wo sie ent-
standen ist, darüber denken wir mit Grund sehr anders als die Groß-
väter. Manches Gebiet bedeutender Fruchtbarkeit hat seine vereinzelte Stel-
lung verloren, und wir wissen nun, in welcher Äberlieferung, kraft welcher
Anregungen und Erbschaften es zu seiner schöpferischen Besonderheit kam.
Weit entscheidender aber wirkte die Erschließung Ostasiens. Denn dort
fand sich nicht ein neues Glied, einfügbar in bekannte oder schon geahnte
Entwicklungen, nicht lehrreiches Material zur Bildung weittragender Hypo-
thesen über längst bekannte Probleme, sondern eine uns neue, eigenartige
und in sich vollkommene Kunst-Welt.

Mit dem Worte Kunst-Welt soll viel gesagt sein. Vor allem etwa dies:
Die ostasiatische Kunst ist bis in alle Wurzeln hinunter formal eigenartig,
sie ist geschichtlich nicht rückführbar auf eine andre uns bekannte Kunst, sie
ist auch nach ihrem seelischen Gehalt keiner anderen,gleich; sie umfaßt alle
Zweige der ästhetischen Gestaltung vom Teller und Topf bis zur freien Bild--
schöpfung, vom Amulett und Altarbild bis zum Dachreiter, zum Bautum,
ja zur Gestaltung der Landschaft eines ganzen Reiches, von der Schrift über
die Buchillustration bis zum Abbild der Wirklichkeit, und überall ist sie
reine, eigenartige ostasiatische Kunst; sie ist Erfüllung aller im Kunst-
schaffen zeitweilig mitwirkenden Triebe: des Nachahmung-, des Schmuck-
des Spiel-, des Bereicherung-, des Symbol-, des Ausdrucktriebes; sie
drückt alle Erlebnisse des Menschen aus, vor allem religiöse, aber auch
die profanen, und offenbart so den gesamten Kosmos des Innerlichen; sie
spielt endlich darum auch diejenige Rolle, welche Kunst im höchsten uns be-
kannten Falle spielt, sie „bedeutet" alles, was Kunst je irgendwo bedeutct
hat. Religionsübung, Lrheiterung, Schmuck, Belustigung, Belehrung, In-
halt reinen Kunst-Erlebnisses, Werk und Wahrzeichen der Nation und der
Persönlichkeit, Bereicherung des Lebens, Bildung der Organe in allen
Richtungen. Nur weil dieses alles so ist, darf das Wort „Kunst-Welt"
auf die ostasiatische Kunst angewendet werden.

Es gibt nicht viele Kunst-Welten. Stellt man höchste Anforderungen,
dann haben wir deren nur zwei: die europäische und die ostasiatische.*

* Vielleicht gibt es auch eine indische Kunst-Welt. Ich wage das weder
Zu behaupten noch zu verneinen. Vielleicht ist es doch mehr nur eine „in-
dische Welt« . . .

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