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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1925)
DOI Artikel:
Häfker, Hermann: Wanderkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0218

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ihr „anschauen" wollt, liegt ja euch Wandernden vor den Augen, über euch,
unter euch, und rings um euch her.

Trinkt, ihr Augen, was die Wimper hält,

Von dem goldnen Äberfluß der Welt!

Und wenn auch diese Aufnahme durch die Sinne, ihr Linströmen in uns
mit Licht und Farbe, Klang und Duft und Luft nur ein Teil dessen ist,
was nottut, so ist es doch der unerläßliche Anfang, und immer wieder ein
neuer Anfang. Denn, Gott sei Dank, wir lernen niemals aus.

Aber nun fangen wir auch än zu begreifen, daß echtes Wandern
nicht bloß im Wandern besteht. Wer nur so in die Natur hinausbaselt,
dem bleibt ihr Bestes ewig verschlossen. Nnd soll anderseits das Wandern
nicht selber eine fortwährende pedantische Schulstunde sein, so müssen wir
einen großen Teil seiner geistigen Arbeit vorwegnehmen. Die Vorbe-
reitung des Wanderns ist eine Arbeit, die man gar nicht gründlich
und geduldig genug vornehmen kann. Auch ist es ja keine unangenehme
Arbeit. Wem nicht zu Hause das Kursbuch und die Landkarte im Vorgenuß
des Kommenden — selbst wenn es anders oder gar nicht kommt — zum
schönsteu aller Gedichtbücher wird, der kann sich begraben lassen. Aber es
gehört noch mehr dazu. Die Vorkenntnisse, die das Wandern zum Genuß
machen, lassen sich nur zum geringsten Teil jeweils zu der besonderen Ge--
legenheit erwerben. Sie müssen auch für den Gebrauch schon gut abge-
lagert sein, dürfen nicht mehr nach Buch riechen, nicht mehr Gedächtnis-
ballast sein. Sie müssen schon in Fleisch und Blut übergegangen sein,
müssen jene vergeistigte Beschaffenheit angenommen haben, die das Gepäck
nicht mehr belastet, kurz: sie müssen Allgemeinbildung geworden
sein. Davon kann hier naturgemäß nicht weiter die Rede sein. Wohl aber
gibt es eine Menge Wissensgebiete, und in allen Wissensgebieten Provinzen,
die erst im Wandern recht erobert werden können, so daß es nur aus der
Not verständlich ist, warum sie ganz allgemein in der Hauptsache noch
in Schulen und am Schreibtisch nicht nur vorbereitet, sondern mit über-
flüssiger Mühe geochst werden. Wie unnatürlich ist es, Sprachen zu
Hause zu lernen, sobald nur irgendeine Möglichkeit ist, sie im Lande selbst
zu üben! Ebenso klar aber ist es, daß es eine verfehlte Methode wäre,
ohne sprachliche Vorbereitung in ein fremdsprachliches Land zu gehen,
um dort nun etwa die ganze Wanderzeit mit sprachlichen Llementar-
studien zu vertrauern. Es ist klar, daß hier erst aus der richtigen gegen-
seitigen Ergänzung zwischen theoretischem Studium zu Hause und prak-
tischer Anwendung auf der Landstraße jener kräftewirtschaftliche Gewinn
erzielt wird, der das Lieblingsstudium unserer heutigen Pädagogik, ihr
angestrebter „Taylorismus" ist. Ebenso steht es mit den Großnaturwissen-
schaften. Daß man Erdkunde, Tier- und Pflanzenkunde, Mineralogie und
Geologie, Wetter- und Sternkunde in Wirklichkeit nur im Freien begreifen
kann, ist ebenso einleuchtend, wie daß nicht Ieder aus der Natur selbst die
ganzen Naturwissenschaften noch einmal entdecken kann. „Maß für Maß"
heißt auch hier die Parole. Wie es aber zu verteilen ist, was man draußen
wirklich sehen und kontrollieren kann, und wie man sehen muß, um über-
haupt etwas zu sehen, horchen, um überhaupt etwas zu hören, das ist eben-
falls eine Sache, in der der Erfahrene den Andern wertvolles Gut über«
liefern kann. Schulen und Volkshochschulen, Museen und eine unüber-
sehbare, zum Teil ausgezeichnete Literatur kommen zu tzilfe, und man
kann raffinierte Schlauheit darin entwickeln, sie zu benützen, man kann

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