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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

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Heft 10 (Juliheft 1925)
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Über Europa und Gandhi
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0220

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Künstlertum ihm jedoch fehlt. Tagore ist Künstler, er ist echter Dichter;
Gandhis Wirkensform ist die politische Rede und der Flugaufsatz ohne
irgendeine ästhetische Bedeutung. Tagore wirkt rein geiftig, Gandhi mischt
sich als aktiver Politiker in den Tageskampf. Tagore drängt Indien zu
einer freien Selbstentfaltung in Austausch und Wettbewerb mit den
Kulturvölkern, Gandhi verkündet die Selbstabschließung und ausblicklose
Selbstbesinnung seines Vaterlandes.

Von allem, was Gandhi lehrt, schafft, bedeutet, geht uns unmittelbar
nur ein kleiner Teil an. Da er Politiker ist, fragen wir unwillkürlich
nach seinen politischen Ideen und Zielen. Rnter diesem Gesichtpunkt aber
enttäuscht er uns bald aufs tiefste. Er lehrt und predigt so offensichtlich
nur indische Angelegenheiten und innerhalb des indischen Kreises so offen-
sichtlich eng und teilweise fast muckerhaft ausgesonnene Einzelziele, daß
man schwer dafür irgendeine Teilnahme aufbringt. Da liest man, wie er
eintritt für den Kultus der Kuh, einen überlieferten Bestandteil der Hindu-
religionsübung; für die Erhaltung des Kastenwesens setzt er sich ein mit
einer völlig unhaltbaren Begründung, die er auf laienhaftes Denken über
imenschliche Vererbung stützt; zugleich allerdings wendet er sich gegen jeden
Kastenhochmut; er predigt die Abschaffung der Arzte in dem seuchenreichsten
Lande der Erde, weil er sie für Förderer des Lasters hält, und das Abtun
alles Europäischen, weil er es als Sünde und Schande auffaßt. Vor
allem haßt er, gleich längst verschollenen, unwissenden Arbeiterschichten, die
Maschine; er redet über sie wie der Fibelgläubige über den Beelzebub, so
wie er von Europa spricht wie ein kleiner jüdischer Prophet von der großen
Hure Babylon; er begreift die Maschine nicht als Mittel, das höheren
Lebens- und Volksbestrebungen machtvoll-klug untergeordnet werden muß,
sondern als das Böse schlechthin. Er verkündet die Lehre, jeder Inder
müsse mit der Hand daheim spinnen, um das Volkselend bannen zu helfen;
selbst ein Tagore soll spinnen! Gandhi verzichtet auf großzügiges Ent-
wickeln der Kräfte seines Vaterlandes und ruft es zurück zu altväterischen
Gebräuchen, die in Wahrheit nicht dauern können. Er lehrt und predigt
geschlechtliche Enthaltsamkeit, in der Ehe zumal, ohne sich um deren
nervöse und sittliche Folgen zu bekümmern, weil er den erstrebten Rückgang
der Äbervölkerung nicht anders zu erlangen weiß, vor allem aber, weil er
ein Fanatiker der Enthaltsamkeit schlechthin ist, darin den engstsinnigen
europäischen Sittlichkeitaposteln ähnlich. Er spricht mit Aufgebot flachster
Beweismittel für den Arbeitfrieden, scheint aber den Zehnstundentag höchst
selbstverständlich zu finden, und ermangelt gänzlich des Einblicks in sozial-
wirtschaftliche Fragen. Dies alles kennzeichnet ihn als weltfremden und
kurzblickigen Sozialpolitiker von fanatischer, unfruchtbarer Haltung; es
ist kein Zufall, daß Tagore zu ihm in lebhaftem Gegensatz steht.

Ans aber würde dies alles gar nichts angehen, wenn nicht in Europa
gerade für Gandhi eine ungemein hingebungvolle Propaganda gemacht
würde, und zwar für den ganzen Gandhi schlechthin, nicht nur für
diejenigen seiner Lehren, die gewichtiger sind als die angeführten. Im
Mittelpunkt dieser Propaganda steht Romain Rolland mit seiner Schrift
„Mahatma Gandhi" (Rotapfel-Verlag, Zürich), und das gibt dem euro-
Päischen Schein-Gandhismus ein gewisses Gewicht. Zwar sollte man sich
längst darüber klar sein, daß Rolland als Derkünder fremder Persönlich-
keiten — sei es Tolstoj, Michelangelo, Beethoven oder sonst jemand — das
Gegenteil eines kritisch Verstehenden und mit hohem Maßstabe Messenden,
 
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