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Kunstwart und Kulturwart — 38,2.1925

DOI issue:
Heft 11 (Augustheft 1925)
DOI article:
Cohn, Paul: Vom unnötigen Altern
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https://doi.org/10.11588/diglit.8168#0267

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wird Dir Dein Ich genommen und nichts dafür gegeben. Sich an un°
würdigen Verkehr wegwerfen ist seelische Prostitution. Echter Verkehr be-
reichert und verlängert das Leben, nimmt die Einsumkeit. Verkehr soll
rine Ehre sein, die man erteilt. und gerade mit seiner Wahl soll man
ehren. Das Ich ist ja doch das Kostbarste, was der Mensch zu verschenken hat,
und mit diesem Korstbarsten soll er wählerisch sein. Fort mit allen Zeit-
räubern! Die kleine Lust- und Krafteinbuße jedes Tages summiert sich im
Laufe des Lebens auch hier zu einer gewaltigen Summe von Anlust und
Kraftverschwendung, und begünstigt damit zum mindesten ein vorzeitiges
inneres Altern. Mit schlechtem Verkehr entehren wir nicht nur mns,
sondern auch das Leben, das uns ja nur einmal geschenkt ist.

Wir altern nicht, wenn die Wendejahre koinmen, wir altern, wie oben an-
gedeutet, an jedem Tag, wo wir unaufgelegt sind, wo wir uns der Trauer,
der Trübsal, allen unharmonischen Empfindungen, allem dem, was herab»
zieht, hingeben. Wohl gibt es Erregungstage und Hemmungstage, die die
Natur selbst schickt; wir sind ja nur Geschöpfe von jedem schwankenden Druck
der Luft. Hoher Luftdruck animiert, niedrige lähmt; hoher Luftdruck be-
schleunigt den Stoffwechsel, niedriger hemmt ihn (führt zu SLurevergiftung).
Hoher Luftdruck steigert unsere Pluselektrizität, niedriger unsere Minus-
elektrizität. Die elektrischen Strömungen durchziehen noch unser Gehirn,
und unsere Stimmung ist nur der innere Ausdruck davon. Wir glauben
im Zwiespalt mit uns selbst zu liegen, und ein Wetterübergang bereitet sich
vor. Die Wetterkrise ist vorbei, und auf einmal haben wir „uns entschieden";
wir sind unserer selbst wieder Herr geworden. Wir sind, wie Alles, passiv,
nicht aktiv; wir glauben zu tun und wir werden getan. Wir sind Wetter-
sklaven. Anders wie mit äußeren Hemmungen steht es mit den inneren
Hemmungen; mit denen, die wir „uns selbst machen". Es gibt hoch-
ziehende und niederziehende Empsindungen; an jedem Tage, an dem
wir uns herunterziehenden Empfindungen überlassen, arbeiten wir an
unserm eigenen Altern. Wir kennt nicht die „alten" Tage, die plötzlich, wie
Reif im Frühling, mitten in die Iugend hineingeschneit kamen, ja die Stun-
den, da wir uns schon als Kind plötzlich. ,alt fühlten? Es gibt unglückliche
Menschen krankhafter oder schwacher Anlage, die diese Stimmung von Ge-
burt an mit sich schleppen. Aber alles im Leben läßt sich üben und entüben:
auch die Mißstimmung. Die Trägheit ist das schlimmste Abel. Es gibt ein
Gesetz im Leben, das die ganze Erziehung und Selbsterziehung beherrscht,
und das damit von stärkster Bedeutung für die Charakterbildung ist; das
Gesetz vom unmerklichenPlus. Das kleine Plus jedes einzelnen Tages
wird zum großen Plus unseres ganzen Lebens; das kleine Minus jedes
einzelnen Tages zum großen Minus unseres ganzen Lebens. Plus- wie
Minuszustände üben sich ein und summieren sich. Die Stunde träger, müder
Stimmung, die Du Dir heute durchgelassen hast, wird morgen leichter und
verstärkter wiederkommen; im Laufe des Iahres wächst sie zur mächtigen
Größe, im Laufe von Iahrzehnten zu dem dunklen Berge, dessen Wucht Dein
Leben überschattet. Hier heißt es rechtzeitig eingreifen; principiis obsta.
Der Augenblick ist der Schöpfer Deines Lebens; den Augenblick beherrsche
und lenke! Und weißt Du gar keinen andern Ausweg aus leerer Stimmung:
an Deinem Körper hast Du immer zu tun; Dein Körper gibt Dir immer
etwas zu arbeiten. Nutze jede üble Stunde, um ein paar Muskelübungen

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