„Flügel der Nike" will ein Buch vom Frieden zwlschen den Völkern seln. Jn den
Louvre gekommen, stürzt der deutsche Pazlflst Unruh auf daü ehrwürdige Stein-
bi'ld zu, und vor den Falten diescS antiken Gewands, auS denen dereinst jeder andere
Hanch eher gestlcgen als der des frledevollen Einander-Li'ebens oder des Ii'ebeschasfen-
den Frledens, träumt er dcn Traum: auf den Flügsln des Nicht-Kriegs, des Un-
Kri'egs eine neue Zeit zum Sieg deö GeisteS emporgeführt zu schen. Nur noch
sovlel „Unruh" i'st lm Träger dicses alten deutschen NamenS, als Unruhe, Unrast,
Spannung, Tat, i'nnerste Hcldentat notwcndi'g ist, um in die Welt herab dle Ruhe
zu zaubern. Nike — Fri'eden, und Unruh — Ruh: es kllngt und scheint ei'n spiele-
risches Paradoxon. Jn di'esem Fall aber i'st es Ernst und entspri'cht.
Es wird i'm Buche nicht gesagt, warum Unruh plöhlich nach Frankreich geht.
Ach, wi'r sahen so vi'ele Männer und Frauen ln den letzten Jahren nach Frankreich
gchn, und mögen es oft nicht verstonden haben: warum sie gerade jetzt nach —
Frankreich gingen. Und mögen eü im selben Augenblick, in welchem wir eü nicht
verstanden, doch auch wieder verstanden haben (waü ureigentümlich deutsch ist
und noch dazu in der Zeit licgt!), weil verstanden, daß die szdeologie von der
Möglichkeit eines Friedens zwischen den Völkern genau so lebendig in uns allen
spukt, wie die von der Unmöglichkeit. Und ist man noch wahrhaftiger, dann darf
man sogar sagen: in dersclben Sekunde schncn wir nns nach dcm „Fricden", in
welcher wir dieser Sehnsucht (nicht also nur der Möglichkeit ihrer Erfüllung!) miß-
trauen. Also dürfte es von jenen Männern und Frauen heißen: von der Se-
kunde Gunst und Haß verzerrk, schwankt ihr Charakterbild in — der Sekunde;
gegen welche psychologische Tatsache eine historische und eine moralischc Wahrheit
stehon. Dic historische, daß dic ssdee deü Pazifismus hente Viele — hübcn
nnd drüben — ergriffen hält; und die moralische, daß viele von diesen Ergrif-
fenen zu den alleredelstcn Menschen gehören.
Sowcit wir aus FriH von Unruhs Werk glühende Überzeugung, gläubigen Dpfer-
willen und lautere Kraft herauslesen, erfahren wir auch, daß diese Tugenden eines
höhcren Menschen ihm aus einer einzigen Quelle entsproßten: seinem persön-
lichen Erlebnis vom Kricge. Jn der Unruhe wurde Unruh zur Ruhc; im
Kri'ege fand er seinen Friedcn. Nun will gewiß niemand sagcn, daß wir die
Geltungükraft ei'ner persönlichen Erkenntnis davon abhängi'g machen, daß der Er-
kcnnende den GegensaH scines Sahes zuvor erlebt hat; welcher Lebendige wüßte unü
sonst gülkig vom Tode zu sagen? Einfühlfähigkeit, Jntuition machen eü sgedem
möglich, die Jdee des Friedens zu erfassen, ohne daß er mehr alü den Begriff des
Soldaten erkennte. AllerdingS aber glauben wir dem Erlebnis am liebsien. Wer
nicht mitgekämpft hat, — wir erfahren es alle Tage — vergaß den Krieg bereits.
Von denen, die mittaten, aber vergaß ihn niemals der Gcistige. Daß in Unruh
das Erlebnis so manisch stark weiterwirkt, um ihn heuts noch leidenschaftlicher als
igig nach Frieden rufen zu machen, bcweist nur entwedcr, wie furchtbar das Er-
lebnis war, oder daß hier cin besonders ins Geistige hinaufentwickelter Mensch
den Krieg crlebte. Wie dem immer sei: wir mögen die Jdeologi'e und ihren Wil-
lcn kritisieren dürfen, die Unruhs Erlebnis in ihm geschaffen hat; und wir mögen
erst recht das krikisch zu beurteilen unS anmaßcn, was sein dichtcrischeü Talent,
scin Genius, aus und mit dieser Jdeologie und ihrer Tatwerdung machk. Hin-
gegen entzieht sich sein Erlebnis jcder Kritik! Es ist nicht nur sein Eigen; sondern:
keines Anderen, auch wenn der Andere cs ähnlich oder 'gar gleich crlebk hätte.
Auch wenn es, darum, besonders dem Mann, der nicht mitkämpfte, auf die Daucr
cingestandene Langcweile verursacht, noch immer die Erinnerung „Verdun" wachge-
rufen zu hören, noch ,'mmer das Gcspenst des schauerlichen Stcrbens in win-
selndcr Derlassenheit und barbarischem Mord ziti'ert zu sehen, — weder vor dem
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Louvre gekommen, stürzt der deutsche Pazlflst Unruh auf daü ehrwürdige Stein-
bi'ld zu, und vor den Falten diescS antiken Gewands, auS denen dereinst jeder andere
Hanch eher gestlcgen als der des frledevollen Einander-Li'ebens oder des Ii'ebeschasfen-
den Frledens, träumt er dcn Traum: auf den Flügsln des Nicht-Kriegs, des Un-
Kri'egs eine neue Zeit zum Sieg deö GeisteS emporgeführt zu schen. Nur noch
sovlel „Unruh" i'st lm Träger dicses alten deutschen NamenS, als Unruhe, Unrast,
Spannung, Tat, i'nnerste Hcldentat notwcndi'g ist, um in die Welt herab dle Ruhe
zu zaubern. Nike — Fri'eden, und Unruh — Ruh: es kllngt und scheint ei'n spiele-
risches Paradoxon. Jn di'esem Fall aber i'st es Ernst und entspri'cht.
Es wird i'm Buche nicht gesagt, warum Unruh plöhlich nach Frankreich geht.
Ach, wi'r sahen so vi'ele Männer und Frauen ln den letzten Jahren nach Frankreich
gchn, und mögen es oft nicht verstonden haben: warum sie gerade jetzt nach —
Frankreich gingen. Und mögen eü im selben Augenblick, in welchem wir eü nicht
verstanden, doch auch wieder verstanden haben (waü ureigentümlich deutsch ist
und noch dazu in der Zeit licgt!), weil verstanden, daß die szdeologie von der
Möglichkeit eines Friedens zwischen den Völkern genau so lebendig in uns allen
spukt, wie die von der Unmöglichkeit. Und ist man noch wahrhaftiger, dann darf
man sogar sagen: in dersclben Sekunde schncn wir nns nach dcm „Fricden", in
welcher wir dieser Sehnsucht (nicht also nur der Möglichkeit ihrer Erfüllung!) miß-
trauen. Also dürfte es von jenen Männern und Frauen heißen: von der Se-
kunde Gunst und Haß verzerrk, schwankt ihr Charakterbild in — der Sekunde;
gegen welche psychologische Tatsache eine historische und eine moralischc Wahrheit
stehon. Dic historische, daß dic ssdee deü Pazifismus hente Viele — hübcn
nnd drüben — ergriffen hält; und die moralische, daß viele von diesen Ergrif-
fenen zu den alleredelstcn Menschen gehören.
Sowcit wir aus FriH von Unruhs Werk glühende Überzeugung, gläubigen Dpfer-
willen und lautere Kraft herauslesen, erfahren wir auch, daß diese Tugenden eines
höhcren Menschen ihm aus einer einzigen Quelle entsproßten: seinem persön-
lichen Erlebnis vom Kricge. Jn der Unruhe wurde Unruh zur Ruhc; im
Kri'ege fand er seinen Friedcn. Nun will gewiß niemand sagcn, daß wir die
Geltungükraft ei'ner persönlichen Erkenntnis davon abhängi'g machen, daß der Er-
kcnnende den GegensaH scines Sahes zuvor erlebt hat; welcher Lebendige wüßte unü
sonst gülkig vom Tode zu sagen? Einfühlfähigkeit, Jntuition machen eü sgedem
möglich, die Jdee des Friedens zu erfassen, ohne daß er mehr alü den Begriff des
Soldaten erkennte. AllerdingS aber glauben wir dem Erlebnis am liebsien. Wer
nicht mitgekämpft hat, — wir erfahren es alle Tage — vergaß den Krieg bereits.
Von denen, die mittaten, aber vergaß ihn niemals der Gcistige. Daß in Unruh
das Erlebnis so manisch stark weiterwirkt, um ihn heuts noch leidenschaftlicher als
igig nach Frieden rufen zu machen, bcweist nur entwedcr, wie furchtbar das Er-
lebnis war, oder daß hier cin besonders ins Geistige hinaufentwickelter Mensch
den Krieg crlebte. Wie dem immer sei: wir mögen die Jdeologi'e und ihren Wil-
lcn kritisieren dürfen, die Unruhs Erlebnis in ihm geschaffen hat; und wir mögen
erst recht das krikisch zu beurteilen unS anmaßcn, was sein dichtcrischeü Talent,
scin Genius, aus und mit dieser Jdeologie und ihrer Tatwerdung machk. Hin-
gegen entzieht sich sein Erlebnis jcder Kritik! Es ist nicht nur sein Eigen; sondern:
keines Anderen, auch wenn der Andere cs ähnlich oder 'gar gleich crlebk hätte.
Auch wenn es, darum, besonders dem Mann, der nicht mitkämpfte, auf die Daucr
cingestandene Langcweile verursacht, noch immer die Erinnerung „Verdun" wachge-
rufen zu hören, noch ,'mmer das Gcspenst des schauerlichen Stcrbens in win-
selndcr Derlassenheit und barbarischem Mord ziti'ert zu sehen, — weder vor dem
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