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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 6 (Märzheft 1926)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0412

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lenen äußersten Dorsicht und anlworten wir: es scheint, daß di'eser Prozeß deS
Hinüberwachsens im Gange ist! Es schei'nt, daß eine — ursächlich dem Emporkommen
der „neuen Sachli'chkeit" ähnliche — reaktive Besinnung si'ch durchringt, welche, ver-
mittels ei'ner Synthese von „Alkem" und „Neuem", nicht nur die „alten" Formen
aus ihrer Acht und ihrem Bann zuruckzuheben und zu organischer Mitfunktion beim
Neubau zuzulassen, sondern auch das Recht auf „Assoziation" — freilich auf die der
heutigen Seele gemäße! — wiedereinzusetzen bestrebt ist.

Geschähe dies in der Tat, dann wäre aus denselben Grunden, die wir vorhin bezüg-
lich der bildenden Kunst geltend gemacht haben, auch für eine Zeitschrift von dev
Aufgabe des „Kunstwarts" die Boraussetzung dafür gegeben, sich wieder folge-
mäßig und praktisch mit Musik zu befchäftigen. Bis dahin mögen unsere
Leser jedenfalls versichert sein, daß wir sie über die einzelnen Stationen des Ent-
wicklungswegs zuverlässig unterrichten werden! K-L

Vom Heute fürs Morgen

Vagabundenseele

s gehk ein Mann durch das Land. Alt
ist er, doch ohne Mattigkeit. Ganz rüstig
schreitet er vorwärts. Ein klein wenig vorn-
übergebeugt in seinem gcauen Rock, dem
grauen, mit Stricken auf dem Nücken fest-
gcbundenen Sack, dem grauen, von Wetter
und Licht verblichenen Hute und den grau
gewordenen, vorn aufgebogenen und gewei-
rcten Schuhcn. Grau ist der wallende Bart,
und wie zwei graue Lichter sind die starren
Augen. Das erschreckend tonlose Heulcn des
Hcrbststurmcs ist !n dlesem Blick. So geht
cr und wandert. Doch nicht wie ein lebendcr
Organlsmus, sondern wie ein grauer Schaktcn.
E!n Hündchen läuft hinter ihm her. Jung
ist es, m!t einem glänzend braunen Fcll. Kein
Halsband ziert eü, keine Marke kettet cs an
Ordnung und Bürgerlichkeit. Es ist ein
Namenlos wie sein Herr. Steil wie e!n
cdlcs Pferd hebt es dic Beine, zögernd ofk.
Es welß kaum etwas von scinem Vor-
wärtskommcn. Es ist ganz Bcwegung
und Bcobachtung. Hin und her gcht der
kleine Kopf. Bleibt stehen zwischenher,
stehcnd auf drei Belnen, daS vierte selbst-
vergessen gehoben. Ganz aufgelöst !st cs
in ein cs vollkommcn beherrschendeS Wun-
dern. DaS Trclbcn am Wege löst seine
Seele auf in gänzliche Hlngabe. Jn Lärm
und Stille horcht cs, an alle Wunder deS
WegcS und dcs WandernS saugt cS sich fest.
Jn scinem Schauen und Trippeln ist es
selbst ein Ton der cs umströmenden Melo-
die dcs Lebens.

Der Alte wandert. Ammer geradeaus. Ohne

Umwenden und Seitwärtsgehen. NichtS von
Ziel ist in diesem grauen Gesicht, kein Suchen
und kein Stehenbleiben am Kreuzweg. Ohne
Bleiben- und Wartenwollen geht er. Keine
Frage ist in ihm, und keine Antwort will
er. Er geht wie einer, der auS diesem Leben
herauS ist und in einem andern weilt, daü
ihn nichts wissen läßt von sich selbst. Er
rührt sich in diesem andern Leben wie in
einer ewigcn Dämmerung, die nichts weiß
vom Rausche des Lichts und von der Milde
des Dunkels.

Jmmer geradeauü. So, wle man geht, da
man keine Erinnerungen mchr hak. Erinne-
rungen an jenc Zeit, da man in warmer,
quellender Augcndlichkcit andächtig-schmerz-
voll weinen konnte, wenn winziges Leid im
Gewande unheilbaren Schmerzes zu einem
kam. So geht man, wcnn man nichkü mchr
erwartet und um nichts mchr trauert.

So geht man, wenn man eine Pflanze ist
ohne Wuczcln. Ein Blatt nur, daS nic zer-
fällt. DaS ein unbekannter Atem ewig vor
sich hec treibt. Man geht so, wenn d!e Zeit
vorüber !st, da man gierig Wort und Ton
sammelt, Freude und Weh, Nacht und
Licht. Er gehk, als bliese ihn die unstete,
am Wcgc wirbelndc, Jahrtausende altc Angst
und Unruhe vor sich her.

Er ist w!e die vcrkörperte Stimme einer
vergangencn Zeit, die keinen Klang im Heukc
mehr hak, cine Stimme aus der Ewigkeik.
Dic Quellen deS Erkenncns sind dem graucn
Manne vcrtrocknet, und die verdorrten Zweige
der Einsamkeit streifen ihn nicht mehr. WiH
und Hohn der Lebendcn dringt nicht in scin
Blut, denn er ist kcin Mensch wie die an-

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