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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 4 (Januarheft 1926)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0279

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Vom Heute fürs Morgen

Bengt Bergs Regenpfeifer

n dem kleinen Aufsatz „Zugvögel" lm
Oktoberhefk deS KunstwartS schrieb ich:
ich hättc einst ein schwedischeS Buch Bengt
BergS gesehen, „dacin er schilderte, wle cr
hoch in Lappland ein überaus schcueS Dogel-
paar in wochenlanger Mühe beschlichcn und
ganz zahm gemacht hatte: eln Wunderwerk
von Hingabe an dle unscheinbarstc, span-
nendste und sinnvorzehrendste Aufgabe und
cin BewelS höchstentwickelter photographi-
scher Tcchnik." Dicses denkwürdige Buch
kam unS scither unerwartet in dcutscher
Übersctzung inS HauS: „Mein Freund, der
Regenpfeifer" (Dietrich Reimer, Berlin).
„DieS isi dic schier unglaubliche Geschichte
von cinem Dvgel, der in einer ödcn Derg-
gcgend Lapplands mit drei wandernden
Männern gut Freund wurdc. Dic Männcc
waren cin Finne, ein Lappe und ich. Mit
unS war daS Pserd dcS Finncn. Dcr Dogcl
war ein Regenpseifer. Er wohntc aus dem
Pidjastjokko . . ." So beginnt das Buch.
Eigentlich ist nicht vicl übec dicscS allcS zu
sagcn. Wcr cine Ahnung von dom Märchen-
schöpser Bcngt Bcrg hat und sich vorstellt,
wie dieser nun gleich jencn alten Märchen-
helden, dic dcn gläsernen Berg oder dic
drci goldncn Haare suchten, selbdritt übcr
Stcöme und Seen, Berge und Schluchten
hinzog, ein scheues Bögclchen zu suchen, wic
er erst dic herrlichsten Landschaftcn deS
sommermilden Hochnordcnü erschauk, dann
sein ganzeS Augenmerk auf daS Tier richtet,
langsam Tag um Tag ihm näher kommt,
seine Gewohnheiten, Gcbärden, Laute er-
blickt, erahnt, erhorchk, daü Tiec vorsichtig
zu zutraulichem Derhalten zähmt, unter
stetem sinnendem Beobachtcn cS endlich ver-
mag, aus seincr Hand zu fressen, sich auf-
heben und streicheln zu lassen, bis er —
schwereS Unheil — die Spur wieder ver-
lierk, — — wer sich dieS auch nur vvn
ferne vorstellt, dcr kann einfach nicht
anders, als dieses kleine Buch sich beschafsen
und ihm einen Tag, cine Racht widmen,
der liebcn bcscheidenen Erzählung nnd dcn
traumhaft lebensübervollcn Bildern. . .

Jn der Tat: dies ist ein Märchen. Mag
der zoologische Ertrag deS BüchlcinS, sein
ornithologischer Gehalt, sein biologischcr Wert
noch so hoch scin — und cs ifi gcwiß, daß

die Entdeckung der Klugheit und Feinheit,
der Lebensweisheit und vielerfahrenen Emp-
fänglichkcit des seltonen Vogels mehr be-
deutet als die dürren Sysiemc unserer Tier-
psychologen und ihrer Geistesverwandten! —,
sein Lcbcnsgchalt ist dennoch größer. Wie
denn? man liest von einer geradezu splee-
nigen Sporksahrt zwecks Enldeckung ciner
noch unbekannten Tierspezies, aber unver-
merkt ecfüllen sich die Lungen mit nvrdischem
Wind, daS Auge mit LandcSwcite, die Seelc
mit einer maßloscn Spannung, und bald
gcnug wird es unü wichtiger als daS ganze
Schicksal StrindbergS odcr AndrejcwS —:
wird dcr Regcnpfeifor frcundlich sein, wird
er mutig sein, wird er zahm wcrdcn?? WaS
bcwcgt ihn zu dieser, zu jener Gcbärdc und
Handlung? Licbt er die Eicr, dic Jungen?
Jst cr nur voll Gier? odcr istFrohheit, istBesin-
nung dabei? klnd welches unaussprcchliche
Glück, wcnn sich ein Zipfel dcü surchtbaren
SchleierS zwischen Mcnsch und Ticr nun
wirklich um ein kleineS hebt und sinn-
voller Zusammcnhang, deutbarcS Leben im
tierischcn Derhalten sich zu erkcnnen gibt!
Jndeü, reizen wir nicht kritischen Bcrstand
zum Widerspruch! „Erkannt" wird vicl-
leicht wenig; aber dieser unheimlichc Bengt
Berg reißt unü derart in die allernächsto,
wacme Rähe des klcinen Tiers, daß wir aus
jone gehcime Weise der Einfühlung mehr
von ihm wissen als von Dutzendcn von
ofk gcsehenen Menschen und gleichsam ge-
zwungcn werden zu dcr Qual-Fragc: WaS
ist denn Wisscn, wenn nicht dicscs Schauen
aus so liebreichen Augen in so naher Un-
mittelbarkeit, und gezwungen werdcn zu der
Dergleichung: WaS wisscn wir denn von
Weib und Kind und Freund und — von
unS selber?

Es ist auSgcmacht, daß Goethe etlicheS
vom Gehcimnis der Wclt und dcö Lebenü
crfaßt hatte. Hundertmal, wenn wir ihn
lcsen, erschaucrn wir in dcm Bewußtsein:
Jetzt, jetzt, jetzt ist cr, bin ich dicht daran
am Letztcn, am Eigcntlichen, am Jnnerstcn,
daS namenlos ist und glüht, wic wir das
unenträtselte Leben in der höchsten Stunde
in uns selber glühen fühlen. Gocthe hätte
eine kolle Frcude an diesem kleinen, sehr
bcscheidcncn Buch gchabk, denn auch dieser
Forscher brennt von doppeltcm Drang nach
Leben und macht unS aus seine märchenhaft

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