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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 5 (Februarheft 1926)
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Trentini, Albert; Molo, Walter von: Offene Briefe, [2]: Albert Trentini an Walter von Molo [und] Walter von Molo an Albert Trentini
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Schumann, Wolfgang: Verdorrte Zeit!
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0331

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orientiert und frei! 3rur, weil wir bedingungüloS, uusuahmülos, in
Allem Gott und seinem rätselhaften allmächtigen Willen ausgeliesert sind, weil wir
wahrhaft nichts anderes sind, als seine „Geschöpfe", habcn wir Freiheit zu erwarten,
nur dadurch haben wir Hossnung! Es ist alles recht, wie es ist!

Dein Walter

VerdorrLe Aeit!

m klar zu sprechcn, muß ich vielleicht anfangs etwas vergröbernde Worte ge-
I brauchen. Vergleicht man diedeutschenMenschen nut Engländern oderHolländern,
selbst mit dem Durchschnitt der Schweizer, so wird man gcwahr, daß die Deutschen
mit einer wundervollen Anlage zu reinem und starkem Fühlen begnadet sind. Noch
immer ist das deutsche das Erbvolk der Geschlcchter Goethes und der Romantiker, die
ejnen Strom tiefer Gesühle, inm'ger Bewegung, warmer Leidenschaft aus sich heraus-
lebten und deren Widerklang in Gedicht, Brief und SelbstzeugniS aller Art der Nach-
welt schenkten. Ja, es gab eine Zeit, da jeder gebildete Deutsche, und noch mancher
ungebi'ldete, dieses Gedicht verstand, allsoglei'ch versiand:

Trocknet nicht, trocknet nicht,

Tränen der ewigen Liebe!

Ach, nur dem halbgetrocknetcn Auge,

Wie öde, wie tot die Welt ihm erscheint!

Trocknet nicht, trocknet nicht,

Tränen unglücklicher Liebe!

Man verstand auch, was ausgesagt sein solle mit dieser Strophe:

Alles geben die Götter, die unendli'chen,

Jhren Lieblingen ganz,

Alle Freuden, die unendlichen,

Alle Schmerzen, die unendlichcn, ganz.

Eine solche Zeit gab es. Und eine unabmeßbare Fülle von Zeugnissen aus dem
ganzen Zeitraum von der Wende des i6. bis zur Wende des ig. Jahrhundcrts-
bekundet überwältigend, daß daS deutsche Bolk das „sühlende" schlechthin, ei'n innigeö,
herzlicheS, ein bewegtes und so empfänglicheS wie ausdruckwilligcs Bolk war. Nach
der Wende des ig. Jahrhunderts aber, nm 1660 oder 1870, beginnt der Strom zu
versiegen, daS Jnnere zu verkümmern. Schon im ersten Jahrzehnt deö 20. Jahr-
hunderts kam vollends eine Haltung auf, deren Kennworte sind: Berdorrung, Ro-
heit, Nüchternheit, „Blasiertheit", und was schlimmer ist: Verachtung und Ver-
höhnung des Gefühls und der Leidenschaft, Spott und Nasenrümpfen über die
Erlebnisse des reinen Herzens. Es ist dahin gekommen, daß alles als „Sentimen-
talität" mit Schimpf abgetan wird, was auch in Wahrheit nicht im geringsten
sentimental, nämlich durchaus nicht wehleidig oder süßlich war; und im Krieg hat
man endlich nicht nur „die Sentimentalität verlernt", nicht nur notwendige und förder-
lich-heilsame Härte erworben, sondern dem Gefühl schlechthin abgesagt. Jn den letzten
Jahren blickt uns tausenöfach eine üble Barbarei an, welche das öffcntliche wie das
persönliche Leben bis zum Unerträglichen verzerrt und „entmenscht".

Wir wissen, daß ,'m gleichen Zeitraum die M e ch a n i s 1 e r u n g Mittel- und
WesteuropaS sich vollendet und Deutschland durchdrungen hat.

Sah die erste Hälfte des vori'gen Jahrhunderts noch das Zerbrechen der ständischen
Schranken, das Aufglühen der ehedem strcng umzirkten Schichten >'n der neuen

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