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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 3 (Dezemberheft 1925)
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Lose Blätter
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Pringsheim, Klaus: Erneuerung der Kammermusik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0184

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Jm Urzustande der Menschheit war jeder Unbekannte ein Feind, und eine Erinnerung
daran ist noch im Unterbewußtsein erhalten. Bei jeder ersten Begegnung muß im
Grunde etwas Feindselig-Fremdes uberwunden werden, das der Kulturmensch durch
eine verbindliche Formel zudeckt. Kinder schweigen und sehen sich scheu gegenüber,
bis sie entweder Zuneigung fassen und einander bei den Händen nehmen, oder das
Mißfallen so deutlich wird, daß sie vielleicht beide in ein Geheul ausbrcchen.

*

Sonst dachte man, die starken Persönlichkeiten entständen durch die starken Gegen-
sätze. Die Griechen, die die eigentlichen Schöpfer der Persönlichkei't waren, fchufen
sich auf jedem Gebiete die swengsten Formen, um ihre feurigsten Kräfte da hinein-
zugießcn. Sie fchlossen alle Willkür auS und machten die Gesetzmäßigkeit, aus der
ihr Schaffen sich entwickelte, zum Prüfstein des Einzelwesens, das stark sein mußte,
um daneben dennoch selne volle Freiheit und sein eigenes Gepräge zu bewahrcn.
Aus dem Zusammenwirken des organisch Notwendigen mit der persönlichen Freiheik
entsprangen jenc Vollmenschen, die so gewaltig waren, daß jeder in sich die ganze
Menschheit darstellt.

Erneuerung der Kammermusik

tctig, unaufhaltsam, wie alles geschichtlich notwendig Gewordeue, vollzieht sich
I ^)in Europa die Erneuerung der Kammermusik. Voraussetzung dafür wurde:

Abkehr der Schasfenden von der orchestralen Symphonik. Die Boraussetzung
ist gegeben und ist natürlich, war eS sozusagen immer; denn unser Orchester, die
grandiose Schöpfung zweier Jahrhunderte, unser symphonisches Orchester ist im
Grunde keine Sache für Symphoniker. Alle orchestralen Errungenschaften von
Gluck bis Wagner, von Meyerbeer bis Schreker sind aus dem Bedürfniö des
Theaters hervorgegangen oder weröen von diesem Bedürfnis aufgezehrt. Mozart
war im Orchester konservativ als Symphoniker, revolutionär als Dramatikcr. Weber,
dessen orchestrale Phantasie Welten auf die Bühne gczaubert hat, war sympho-
nischer Gestalter eben genug, um ein paar Opernouvertüren zu formen. Jm „Som-
mernachtstraum" ist mehr Orchestcrinspiration als in aller symphonischen Produk-
tion der zeitgenössischen Nomantiker, in einem Akt der „Jüdin", in der „Tell"-
Ouvertüre, im „Troubadour" noch heute mehr orchestrale Problematik als in allen
Symphonien des tubengewaltigen Bruckner, der nur Mitläufer und Nutznießer
des Wagnerifchen Theaterorchesters, in Wahrheit so wenig wie Brahms jemals
orchestral schöpferisch war. Die Bahnbrecher der symphonischen Programm-Musik,
Berlioz und Liszt, sind, entwi'cklungSgeschichtlich gesehcn, Wegbereiter des musika-
lischen Dramas geworden, ihre orchestralen Werte, soweit Einmalig-persönliches
lösungsfähig ist, im Theater, in Wagner und Strauß aufgegangcn. Und Strauß,
der orchestergeniale, der, merkwürdig genug, um die Wende deö Jahrhunderts als
führender Symphonikcr gegolten hat? Die Hälfte seines LebenSwerkö, die Tondich-
tungen, waren Theater im Konzertsaal, sind nur Vorstufe, Studie, Werkstatt des
Opernkomponisten (oder Abfall, wie die Kulissenmusik der „Alpensymphonie").
Orchester ist nun ei'nmal Sache des Theaters, daS nun einmal Glanz und Kolorit,
sinnfällige Charakteristik nötig hat. Trotz Beethoven: der, nicht im „Fidelio",
aber in der Neunten Symphonie die kommende Musik dem Thcater überliefert
hat. Trotz Mahler: der selbst wußte, daß er von Wagner kam, und über den,
sein Werk und Wirkung seineö Werks, mit unsern Enkeln zu reden sein wird.

Abkehr von der orchestralen Symphonik: wir sind, scheint eS, durch das KriegS-
erlebnis dafür reif geworden. ffn den Ländern der Sieger und der Besiegten isk
das BedürfniS nach einer neuen Musik aufgegangen, einer immateriellen, vom

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