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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1925)
DOI article:
Trentini, Albert: Erlebnis, Wille und Genius: zu Fritz von Unruhs Pazifismus
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0072

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mehr zu „tun", nichts mehr zu „leben"; der Mechanismus des Widersiands fehlt
dann, und damit auch der Antrieb zur Leistung der Lebenöfunktion: der erzeugen-
den Tat!

Versteht man nun, warum auch Unruh, der Apostel des Pazifismus, nicht trotz,
sondern wegen seiner ausschließlich einpoligen Einstellung gegenüber dem FAe-
denöproblem Nichts „geschasfen" hat in Paris? Und daß er diese armselige Er-
fahrung so fchmerzlich empfand? Aber heißt es nicht immer: Liebe nur erzeugt die
fruchtbare Tat? Ja, eö heißt so; aber wer sich nicht täuschen läßt, der sieht bald:
Liebe allein erzeugt ebenso Nichts, wie Haß allein Nichts erzeugt! So wie
Haß allein — Kampf allein — das Leben durch eine allgemeine Vernichtung auf-
hebt; so höbe Liebe allein — Frieden allein — das Leben durch die allgemeine Be-
förderung des Diesseits-Jenseits in das Jenseits hinauf auf!

* *

Aber — noch nicht genug! Noch zwei letzte Einwände, diese rein praktischer
Natur, erscheinen vor Unruh! Der erste sagt: Warum, ihr Träger eines heiligcn
Willens, fangt ihr mit seiner Verkündigung und Erweisung just mit dem Frieden
zwischen den Völkern an? Jst es geschickt, anstatt auf der untersten Stufe der Leiter
den Stieg zu beginnen, gleich ein paar Dutzend zu überspringen, und zu verlangen,
daß Menschen, die so gut wie allesamt noch Gott, dem „Nächsten", dem Tier und
der Pflanze gegenüber blinde Egoisten sind nnd keinen blassen Dunst von der Gleich-
berufenheik aller Geschöpfe im Gefüge des KoömoS haben, — daß solche Menschen
just den Mann auS dem Nachbarvolke nicht totschlagen sollen, wenn er herüber-
gerast kommt, um ihr Hauö anzuzünden, oder wenn ihnen, bis sie nicht mehr wissen,
wo links und rechts ist, eingebläut wird: ihr müsset hinüber und ihn ausränchern,
ehe e r herüberkommt?

Der zweite steht mit diesem in einigem Zusammenhange. Er frägt: gesetzt den Fall,
daß alle Menschen in einem bestimmten Staate Pazifisten wären, und daß nun von
einem anderen Staate her eine „Beleidigung" dieses Pazifistenvolks, oder eine
„Jnteressenverletzung" desselben, oder gar ein Einfall in sein Gebiet erfolgte,
oder . . . ja, man denke an die zahllosen historischen Kriegsanlässe, die selbst das
dicksthäutige, friedlichste Volk im Nu zur blitzenden Empörung und zum ein-
mütigen begeisterten Aufnehmen des Kriegs gebracht haben! Jst eö nun in einem
solchen Falle, frägt der Einwand, sicher, daß dieS Pazifistenvolk nicht „loö-
gehen" wird? Dieser Einwand bezieht also die heute noch nicht im Geringsten ge-
löste Frage: ob der OrganismuS eines Volks ein anderer ist, als die Organiömen
der Einzelnen in diesem Dolke sind? Ob also neben den Einzelindividuen noch das
Gesamtindividuum „Volk" da ist, und ob dieses nach anderen, von den Gesetzen,
welchen der Einzelne gehorcht, unabhängigen Gesetzen sich auswirkt? So daß, wenn
diese Frage bejaht werden müßte, verständlich würde, warum ein „Volk" unter
Umständen plötzlich kriegöfreundlich handelt, obwohl jeder seiner Einzclnen für sich
„pazifistisch" handeln möchte!

* *

*

Kann es nach alledem noch Jemanden Wunder nehmcn, daß Unruh nicht nur als
ein Stück irdischen Lebens, sondern auch als Dichter mit seinem Buche Schiffbruch
leiden mußte? Wir verbeugen unS — wiederholen wir eö! — vor seinem Erlebnis. Wir
verehren, wie sich's gebührt, seinen Willen — bis dorthin, wo dieser Wille nicht
umhin kann, für seinen Träger irdischeste und diesseitigst-eitelste Reklame zu
machen. Aber wir bedauern, gerade, weil wir nun ihre Gründe kennen, die künstle-
rische Jmpotenz dieseö Bncheö —

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