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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

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Heft 2 (Novemberheft 1925)
DOI article:
Bruns, Marianne: Jean Paul: zu seinem 100. Todestag
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0089

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liebenswürdi'g schwätzerhaften Wunderlichkeit, daS erst recht macht ihn der großen
Zahl seiner Leser vertraut.

Jean Paul trat sür die Freiheit des Willens ein. Er selber hatte einen sehr
starken, sehr wohldisziplinierten Willen, auf den viele seiner Eigenschaften gegründet
sind. So sein märchenhafter Fleiß. Jean Paul hat seit frühester JünglingSzeit
aus allem, waS er las — und er las viel! — Auszüge,gemacht, hat alles, was ,ihm
einfiel — und ihm fiel so viel ein, wie gewiß keinem Dichter vor und nach ihm
— aufgeschrieben. So wurde er ein Vielwisser, so entstand ein Nachschlagematerial
von immenser Breite. Dieser Fleiß wieder und seine Folgen forderten, wenn der
Arbeitende nicht darin ertrinken wollte, willentliches Zielbewußtsein und virtuose
Zeitausnützung. Über alledem vergaß er, zwar nicht Menfchen — für Menschen
hatte er immer Zeit — doch aber den Umblick. Er kam nie zum Reisen. Und
diese sammelwütige Anhäufung, die sich in seinen Werken entlädt, macht das Wun-
^erliche auS.

Begründet in der Art seiner Ethik, doch erzogen vom Willen ist Jean Pauls un-
bedingte Wahrhaftigkeit. Nicht Rücksicht, nicht Takt, nicht Verlegenheit, nicht
Phantasie, nicht Todesgefahr konnten ihm je eine Lüge entlocken. Ja, hätte er das
Leben seiner Kinder mit einer Lüge erkaufen sollen: er hätte sie sterben lassen
müssen.

Auch seine Keuschheit — er soll, als er mit siebenunddreißig Jahren heiratete, noch
keine Frau umarmt haben — setzt, besonders da er viele Freundinnen hatte und von
Frauen sehr verehrt wurde, große Willenskräfte voraus.

Seine heitere Genügsamkeit endlich, wiewohl sie von seiner unbändigen Phantasie ge-
nährt wurde, ist doch vom Willen gestützt, sein OptimiSmuS ist durch Uberlegung
erworben.

Die Kräfte seines Geistes kommen zum Ausdruck im starken Denk- und Urteilsver-
mögen, das ihn zum humoristischen Satiriker macht, und — seltsame Bereinigung —
in seiner üppigen Phantasie.

Aber größer noch, mächtiger und bestimmender als die Eigenschaften, die sein Wille
und Eeist erzeugt und geformt haben, sind seine Kräfte des Herzens und Gemütes.
Jean Paul ist ein tief religiöser Mensch. Zn geistbegabt, zu freiheitlich, zu liebend,
als daß man ihn hätte theologisch binden können. „Allgütiger" redet er Gott an.
Er verachtet oder belächelt die Leute, die Eigennütziges von Gott erbitten. Er zürnt
denen, die eine Hölle glauben, auch will er nicht, daß die Seligkeit gedacht werde
als Lohn für unsere armen Tugenden. Der Tugend zu dienen ist ihm gleich mit
Gott dienen und ist viel zu herrlich, als daß man es um Lohn täte. Jean Paul
glaubt an die Unsterblichkeit des Menschen, an ein bewußteS Fortleben nach dem
Tode in einer anderen Welt, an einen persönlichen, allliebenden Gott. So weit
wie ein persönlicher Gott gedacht werden kann, so weit erfaßt er ihn, läßt sich von
ihm erfassen. Er hat erhabene Traumdichtungen geschrieben, die kaum mehr denk-
bare, nur mehr erfühlbare, metaphysische Weite eines strömenden Lebensbewußt-
seins osfenbaren. Das Wesentliche seines Gottgefühles aber ist, daß er Gott mit
Tugend identifiziert. Trotzdem waren sein Gott und er unendlich gütevoll.

Sein Herz liebte, wie ein Menschenherz nur irgend lieben kann. Höher alü Liebe
der Geschlechter zueinander stand ihm Freundeöliebe, die gänzlich unei'gennützige, die
Begeisterung schafft und Taten. Frauen liebte er auf seltsam spirituelle Art. Edle
Weiber waren ihm zartere, frommere, höhere Wesen, die ihn rührten, begcisterten
und entzündeten. Gewiß hat er sie auch begehrt und geküßt, aber leibliche Liebe
schien ihm eine Herabminderung des Gefühls, auch schien sie voll Egoismus. Göttlich
aber, voll Tugend und intensivster Beglückung war ihm reingeistige Hingabe. Er
liebte Kinder mit tiefer Jnnigkeit. Tiere entzückten ihn. Er hatte deren viele.

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