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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1925)
DOI Artikel:
Bruns, Marianne: Jean Paul: zu seinem 100. Todestag
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0091

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und hilfreich gegen das Nächste. Der Gcniale übersieht das Schwächliche i'm
Anschauen des Großen. Es ist kein Zufall, daß Goethe sich in Geologie be-
sonders vertiefte, Jean Paul aber in Medizin.

So roie Jean Paul der Tugend dient nm ihrer selbst tvillen, so dient der große
Schöpfer der Tat, dem Schaffen an sich, der absoluten Kunst. Getoiß sind auch
in diesem absoluten Schöpfertum moralische Wcrte — es sind ja auch in Jean Pauls
Bürgertum schöpferische, und ohne beides wären beide hinfällig -— aber daö Pri-
märe ist dem Genie die Schöpfung. Schöpferische Tat ist ihm das Gottähnlichste des
Menschen, ist ihm Religion, Verantwortung und Ewigkeit. Tugend, gesitteteö Sein
ist dem Bürgerlichen das Gottährilichste des Menschen, ist ihm Religion, Verant-
wortung und Ewigkeit.

Und so kann wohl behauptet werden: ein genialer Moralist ist kein genialer
Künsiler. Jcan Paul beweist es. Jean Panl war, so möchte man sagen, ein be-
deutender, vielleicht der bedeutendste deutsche Dilettant aller Zeiten.

Ein Dilettant der Dichtkunst.

Nicht Schöpfung, nicht Lebensgestaltung isk der nrtümliche Sinn von Jean Pauls
Romanen, nicht das Werk und seine Vollendung ist ihm das Wichtigste, sondern die
Menschen sind eg: die, die es lesen werden, die, die er schildert und er selber. Nicht
daß er eine tendenziöse Geschichte zusammenstoppelt, dazu ist er denn doch viel zu
weit und reich, aber das Werk dient. Nicht die Dichtung ist Herr, sondcrn der
Mensch. So wie er, irgend etwas zu erläutern, die entferntesten Bilder aus Medizin
oder Technik heranzieht, unbekümmert, ob sie geschmacklos sind und die Atmosphäre
zerstören, so biegt er um letzter sittlicher Ziele willen Charaktere und Handlung, un-
bekümmert um daü Werk und das Leben. Weil ihm daö Menschliche so überaus
wichtig isi, öffnet er auch jederzeit den vollen Sack seiner geistvollen, weitabschweifen-
den Aphorismen, ja er wendet sich direkt an die Leser in Extrablättern oder anderen
kuriosen Einschiebseln. So geschieht es, daß seine Romane wild durchwuchert sind
von schwätzerischem Gesirüpp, völlig unwegbar, gesprengt, zerstreut.

Phantasie, Geist, Empfindung, er besitzt sie in einem Maße, das wohl genugen
könnte, einen Dichter auszumachen, und doch fehlt ihm zum Künstler ein Gefühl
für die Form. Er versieht eö nicht, das, was die drei in reicher Kraft hervorbrin-
gen, einer höheren Einhcit unterzuordnen. Um Spannung zu erregen, um Nomantik
zu erschasfen, die er für erforderlich hält, erfindet er eine obskure, technische, kompli-
zierte, rein äußerliche Maschinerie — so etwa im „Titan" —, vergißt sie dann aber
wieder und löst das Rätsel am Schluß flüchtig, als wäre es ihm selber sinnlos, oder
er bringt so tiefe Geschmacklosigkeiten, wie der gespielte Tod deü Siebenkäs mit
den Schlaganfällen eö ist, oder wie Dr. Katzenbergerö Vorliebe für Mißgeburten.
Zusammenhänge stellt er durch wahre Bocksprünge her, die man kaum cinem Leser
zumuten kann, und wenn er selber nicht mehr wei'ß, wie springen, wendet er sich
gelegentlich direkt an die Leser und erklärt mit einem gutmütigen Lächeln, was ge-
schehen isi oder vor sich gehen soll. Der Roman an sich, die Struktur, isi ihm
ganz gleichgültig. Er führt selten seine Pläne annähernd aus, wirft auch etwa
— wie in den Flegeljahren — den ganzen Kram hin und kümmert sich den Tenfel
um eingegangene Verpflichtungen. Bei keinem Schriftsteller seineS Rangeö gibt
eö ein solch unvermitteltes Nebeneinander von tiefster Empfindung und krauser
Satire, von schmelzendem Sentiment und scharfen Gedanken, von edlem Pathoö
und wirrer Phantasieumwucherung. Unkünsilerisch auch daö.

Auch seine Sprache ist, obwohl durch sein unvorstellbares Vielschreiben eine Art
einheitlichen, abgeschliffenen Stiles zustande gekommen ist, nicht eigentlich die eines
KünstlerS. Wohl hat sie dynamisch-musikalische Reize, die hie und da wirken, aber
ihren schlagenden Wert, ihre packende Wucht, ihren plastischen Reiz schöpferisch zu

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