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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,1.1925-1926

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1925)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Humanismus und Realismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7999#0129

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Glaukon die goldene gegen die eiserne Rüstung. Ohne eö zu tvollen, treiben uns
die Realisten zu solchem Tausch.

Wir sind nicht außer Gesahr. Eine große Berliner Zeitung brachte im September
einen erschütternden Aussatz: „Womit beschästigt sich heute unsere Jugend?" Die
Antwort des ossensichtlich vielersahrenen DersasserS lautete: Es ist eine Generation
herangewachsen, „die in ihrem geistigen Niveau weit hinter ihren Vorgängerinnen
zurückbleibt, die nicht mehr den alten, hohen Zielen zustrebt. . ." Jm Gefolge
der Teuerung ist „die häusliche Atmosphäre völlig materialisiert". „Es fehlt der
Jugend heute zum großen Teil an rechten Zielen." Fast alle Lehrer klagen über
„Lustlosigkeit" und Leißungsrückgang. Am verheertesten ist die „literarische Auö-
bildung"; eö gibt keine „wertvollen Aufsätze" mehr, nur noch „Durchschnittware",
die vom Kino ungünstig beeinflußt ist. „Heutzutage gehören nämlich die Schüler
der höheren Lehranstalten zu den begeistertsten Kinobesuchern." „Die sreiwillige
Lektüre hat außerordentlich gelitten. . ." Karl May, Gerstäcker, Jules Verne,
Sienkiewicz' Quo vadis werden „verschlungcn". Obwohl sich der Deutschunterricht
verbessert hat! „Viel geringer als früher ist heute das Jnteresse der Jugend
sür die Vergangenheit, vor allem für die Antike. Auch hier wird ost nur der Nütz-
lichkeitsmaßstab angelegt. . ." „Jm Verkehrsmuseum ist ein außerordentliches An-
steigen der Besuchskurve zu beobachten." „Verständnis (auf musikalischem Felde)
beskeht bei den meisten nur sür Tanzmusik", und die Tanzfreude ist groß. Wurde
das Turnen srüher vernachlässigt, so begegnet man dafür jetzt einer unersreu-
lichen Wendung: „Die Jungen interessieren sich heute sast nur noch für den Sport";
und zwar ohne sich selbcr sehr anzustrengen! „Zehn Jungen sechten einen Wett-
kampf aus und zehntausend schauen zu." Nicht Stählung des Körpers, sondern
Besriedigung der Rekordsucht ist däö Ziel dabei! Wenn keine Rekordbrecherei möglich
ist, gibt es „allgemeine Lustlosigkeit". „Außerordentlich stark ist das Verständnis
der heutigen s^ugend sür technische Dinge", z. B. sür Radio. „Die Senkung des
Bildungsniveaus ist erschreckend; sie läßt die schlimmsten Schlüsse auf die geistige
Vcrsassung der künstigen Oberschicht zu."

Wer nicht blind durch seine Zeit läust, weiß, daß das wahr ist. Weiß auch, daß
die andere, die nicht rekordsüchtige, nicht kinowütige, nicht Karl May-versessene,
die wandernde, singende und vergemeinschaftete Jugend, so viel sympathischer
sie sein mag, sich mit einer ungemein platten, anstrengunglosen und, zersahrenen
Bildung begnügt. Weiß, daß die älteren Gebildeten von heute mit leisem Grauen
einer Zukunst entgegensehen, in der sie vereinsamte Narren sein werden mit ihrem
Glauben an Geisk und Bildung.

Wer in solcher Zeit nun auch noch die Schule dem Geist deS Radio, deö Berkehrs-
museums und der Zeitung überantworten will — und sei es in der besten Absicht —,
weiß wahrhaftig nicht, was er tut. Es handelt sich längst m'cht mehr um ein
bißchen Mehr oder Weniger. Nicht urn ein paar Zentimeter am geistigen Niveau-
pegel des Dolkes. Ja, man kann sagen: es handelt sich schon überhaupt nicht mehr
nm „Geist" im engeren Wortsinn aliein. Es handelt sich um den Typus deö deut-
schen Menschen. Zweck- und Nutzmensch hier, Geist- und Seelenmensch dort. Sicher-
lich wird die Schule nicht allcin und nicht hauptsächlich darüber entscheiden. Sicher-
lich wird sie ungeheure Anstrengungen machen müssen, um auch nur einen Teil
des verlorenen Bodens wiederzugewinnen; und vollends mit einem Stoss, der dem
durchschnittlichen Botokuden nnd Banausen so fremd ist wie der des Humaniömus.
Vielleicht ist es zu spät. Vielleicht hebt im Ernst das Zeitalter der Zivilisations-
barbarei an. Doch bleibt trotz alledem wahr, was'man so ausdrücken könnte: klnd
wer der Griechen Stimme nicht vernimmt, bleibt ein Barbar, er sei auch wer cr sei!

Sch
 
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