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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0081

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Sind aber die edelsten Geister der Nation wirklich Apostel des Bürger-
tumes als des Standes der reforrnatorischen sozialen Bewegung, ja wohl
gar Propheten des vierten Standes gewesen, dann ist uns dies eben nur
eine Bürgschaft mehr für das innere Recht dieser bewegenden Mächte neben
denen des Beharrens, und wenn etwa der vierte Stand dermalen noch im
Schlamm der Zerfahrenheit und Nichtsnutzigkeit steckt, so sind wir darum so
wenig befugt, ihm seine Zukunft abzusprechen, als wir's dem Bürgertrrm
werden absprechen können, daß ihm die Gegenwart gehört.

^Line eigentümliche soziale Krankheitsform ist in dem modernen Bürger-
^stande zum Ausbruch und zu wahrhaft epidemischer Verbreitung gekom-
men. Es ist der Stumpfsinn gegen jegliches soziale Interesse, die gewissen»
lose Gleichgültigkeit gegen alles öffentliche Leben überhaupt. Gin großer
Teil des modernen Bürgerstaudes ist förmlrch ausgeschieden aus der Gesell«
schaft, der einzelne zieht sich in die vier Wände seines Privatlebens zurück.
Die Schicksale des Staates und der Gesellschaft wecken nur noch insoweit seine
Leilnahme, als ihm ein persönlicher Vorteil dabei ins Auge springt, als sre
ihm Stoff zur Anterhaltung oder wohl gar Anlaß zu gelegentlicher Prahlerei
bieten. Man faßt diese ganze große Sippe unter dem Namen der Philister
zusammen.

Der politische Philister fällt keinem einzelnen Stande besonders zu, er
stellt sich dar als eine Entartung des Staatsbürgers, nicht des Gesellschafts»
bürgers; der soziale Philister dagegen gehört wesentlich dem Bürgerstande
an. Wenn das gesunde Bürgertum gerade durch die in ihm stets flüssigen
Gegensätze des Sondergeistes und Einigungstriebes, eines aristokratischen
und demokratischen Prinzips erst recht sein originelles Gepräge erhält und
zur Macht der sozialen Bewegung wird, dann heben sich diese Gegensätze
im Philister zur Indifferenz auf, und er vertritt uns die soziale Stagnation.
Auch im Philistertum freilich ist Leben und Bewegung, aber es ist jenes
schauerliche Leben, welches in dem verwesenden Leichnam gärt und wühlt.

Der Philister erkennt wohl auch gleich uns in dem Bürgerstande den
„Mittelstand", aber nicht, weil er in ihm den 'bewegenden Mittelpunkt ge-
funden, darin alle Radien des gesellschaftlichen Lebens zusammenlaufen,
sondern weil sein Bürgertum der Ausbund sozialer Mittelschlächtigkeit rst,
ein nichtsnutziges, lauwarmes triste-milieu.

Nicht der ökonomisch zerrüttete Bürger wird am leichtesten zum Philister,
das Philistertum setzt eher ein gewisses Wohlbefinden, und sei es auch nur
ein ganz erbärmliches, kleinliches, voraus: es ist ein ins Kraut geschosseE
Bürgertum, von seiner Idee abgefallen, aber äußerlich um so üppiger fort-
vegetierend:

„Zum Teufel ist der Spiritus,

Das Phlegma ist geblieben."

/^inzelne Philister hat es gegeben, seit es einen Staat und eine Gesellschaft
^gibt, aber das Philistertum als eigene umfassende soziale Gruppe ist eine
durchaus moderne Lrscheinung. Dem Geiste des klassischen Altertums würde
es entsprochen haben, den Philister mit Verbannung und bürgerlichem Tode
zu bestrafen. Es ist ein trauriges Zeichen von der inneren tzohlheit des
modernen Polizei- und Beamtenstaates, daß derselbe die Gesellschafts- und
Staatsgefährlichkeit des Philisters gar nicht erkennt, oder, wo dies geschehen
sollte, demselben durchaus nicht beizukommen weiß. Der Grundgedanke des
Philistertums ist eine tiefe politische Ansittlichkeit, welche Staat und Gesell-
schaft langsam vergiftet, und doch kann zugleich der Philister nach polizeü-

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