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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 10 (Juliheft 1923)
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Von Bernard Shaw
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0172

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einer Lebenskraft erklärt werden. Das erscheint sehr einfach; aber die Anti»
mechanisten lehnten sich dagegen auf, Vitalisten genannt zu werden (un-
bedingt die richtige Bezeichnung für sie), aus zwer sich widersprecheuden
Gründen; erstens weil Mtalität wissenschaftlich unzuläfsig sei, weil man
sie nicht isolieren und im Laboratorium mit ihr experimentieren könne, und
weil zweitens die Kraft im wesentlichen ein mechanistischer Begriff sei, da
man sie als irgend etwas definiert habe, was imstande sei, die Geschwindig-
keit oder die Richtung der in Bewegung befindlichen Dinge zu verändern,
kurz als etwas, was die Trägheit zu überwinden vermöge. Hier hatten wir
den Neuvitalisten nur halb losgelöst von dem Altmechanisten (wie sie aber
auch nicht genannt sein wollten), unfähig, in der neuen Richtung jirgend-
einen klaren Weg zu weisen. Und noch ein tieferer Antagonismus war
vorhanden. Die Aktvitalisten, die eine Lebenskraft voraussetzten, stellten
einen verhältnismäßig mechanischen Begriff der göttlichen Idee des Lebens
gegenüber, das Adam in seine Lehmnüstern gehaucht wurde und ihn zu
einer lebenden Seele machte. Die Neuvitalisten, die durch ihre Laborato-
riumsforschungen ein Gefühl für die Wunderbarkeit des Lebens bekommen
hatten, das weit über die verhältnismäßig schlecht informierten Vorstellun-
gen der Urheber des Buchs der Genesis hinausging, betrachteten die Alt-
vitalisten als Mechanisten, die den Abgrund zwischen Leben und Tod mit
einer leeren Phrase, eine imaginäre physikalische Kraft bezeichnend, aus-
zufüllen versucht hatten.

Diese berufsmäßigen Parteikämpfe sind Eintagserscheinungen und brau-
chen uns hier nicht zu behelligen. Die Altvitalisten, die im Wesentlichen
Materialisten waren, hatten sich zu Neuvitalisten entwickelt, die, wie alle
echten Wissenschaftler, letzten Endes Methaphysiker sind. Und da der Neu-
vitalist ^ich von den Wortstreiten seiner Iugend der Zukunft seiner Wissen-
schaft zuwendet, wird er nicht mehr vor der Bezeichnung Vitalist oder vor
der unvermeidlichen, alten, volkstümlichen und durchaus richtigen Anwen-
dung des Ausdrucks Kraft zurückschrecken, um die metaphysische wie auch
die physikalische Aberwindung der Trägheit zu bezeichnen.

Seit der Entdeckung der Evolution als der Methode der Lebenskraft
hat die Religion des metaphysischen Vitalismus die Bestimmtheit und kon-
krete Beschaffenheit erlangt, die erforderlich war, um sie dem gebildeten,
kritischen Menschen annehmbar zu machen. Aber da war sie immer. Die
volkstümlichen Religionen, die durch ihre opportunistischen Kardinäle und
Bischöfe entwertet wurden, haben ihr Ansehen durch kanonisierte Heilige
beibehalten, deren Geheimnis darin lag, daß sie sich;als die Werkzeuge
und Vermittler göttlicher Kraft und göttlichen Strebens auffaßten: eine
Auffassung, die in gewissen Augenblicken zu einer tatsächlichen ekstatischen
Besessenheit von dieser Kraft wird. Nnd über und unter allem hat es Mil-
lionen von demütigen und unbekannten Menschen gegeben, die bisweilen
völlig ungebildet, bisweilen sich gar nicht bewußt wgren, überhaupt eine
Religion zu besitzen, und bisweilen in ihrer Einfalt glaubten, daß die
Götter und Tempel und Priester ihrer Gegend die instinktive Rechtschaffen-
heit repräsentierten. Sie alle aber hielten die Tradition aufrecht, daß gute
Menschen einem Licht folgen, das in ihnen, über ihnen und vor ihnen
leuchtet, daß schlechte Menschen nur für sich selber sorgen, und daß die
Guten selig, die Schlechten aber verdammt und elend werden. Der Prote-
stantismus war ein Versuch, einem Lichte nachzustreben, das man ein inneres
Licht nannte, weil jeder Mensch es mit seinen eigenen Augen sehen muß
 
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