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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Seiffert, Johannes: Der Zuschauerraum des Theaters
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0123

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DER ZUSCHAUERRAUM DES THEATERS

die Entwicklung des Theaters ausgebildet hat,
so empfinden wir die notwendige Einheit des
Theaterraumes mit den Darbietungen der Bühne.
So sehen wir in den Perioden eines starken
Volkslebens, dessen Rhythmus und Herzschlag
Klassenschmerzen und Moquiersucht von Sonder-
bestrebungen verstummen macht, die einfache
Szene inmitten der Zuschauer, wie sie das antike
Theater (Fig. i) und die Shakespearebühne
(Fig. 2 und 3) hatten. Wir sehen dort um die
Lebensstücke, die der Dichter gestaltet hat, ein
Publikum versammelt, das wirklich, gemessen an
seinen geistig-seelischen Interessen, als Repräsen-
tant des Volkes, seines Fühlens und Denkens
gelten kann, und empfinden, wie es im Miter-
leben der Dichtuns; der Einheit alles Erlebens
bewußt zu bleiben sucht.

So sehen wir andererseits im Hof- und Ge-
sellschaftstheater der neueren Zeit (Fig. 4 und 5)
die Absonderung einer Klasse in Logen und
Rängen, die ihr besonderes Gesellschaftsleben
auch im Theater sucht, und damit verbunden
die Volksentfremdung des Theaters. Der Zu-
schauerraum wird nun wesentlich Gesellschafts-
raum, in dem man nicht nur sehen sondern vor
allem auch gesehen werden will; die Szene wird
aus ihm herausgedrängt in eine besondere Bühne;
man sieht in das Leben der Dichtung hinein
wie in einen Guckkasten. Ist es ein Wunder,
wenn man nun bald auch in dem Guckkasten
zerstreuende und aufkitzelnde Bilder bevorzugt?
In der vortretenden Scene des antiken- und
Shakespearetheaters ertrügen wir nicht solche
Bilder und Augenweite per Distanz; und in dem
Guckkasten hinten weit weg ergreifen uns die
Gedanken des Schicksals nicht so sehr als in der
Nähe — wir gehören nicht mehr mit dazu: das
alles, was da hinten weit weg geschieht, ist ja
doch nur „Theater"!

Aber ein Theater, das nur „Theater" ist und
sein will, kann — kein Theater bleiben. So
paradox sie klingt, so sehr müssen wir diese
Wahrheit in unserer Zeit einer wiederkehrenden
Entfremdung des Publikums vom Theater, in der
Zeit des Aufkommens der Lichtspiele, des „reinen"
Schaubildes einerseits und der Wiederaufnahme
der zentralen Szene in den Zirkusauffübrungen
großer Dichtungen andererseits erleben.

Und wie in früheren Ubergangszeiten wurde
auch in der unseren die Form des Zuschauer-
raums wieder problematisch. Ehe das italienisch-
französische Gesellschaftstheater zur Herrschaft
gelangte, wurden auch in der Renaissancezeit
Versuche gemacht, an die Form des antiken
Theaters wieder anzuknüpfen, wovon das Teatro
Olimpico des Palladio in Vicenza ein lehrreiches
Beispiel bietet (Fig. 6). Aber das „Volk" war
ausgeschlossen von diesen szenischen Darstellungen;

es war auch in so hohem Grade von der Kirche
beherrscht und von den Tragödien des Erlösers
und der Märtyrer ergriffen, daß die „Szene"
von der „Gesellschaft" okkupiert werden konnte,
daß das Theater Hof- und Gesellschaftstheater
wurde. So blieb das Renaissancetheater, das sich
hierfür nicht eignete, ein Versuch ohne weitere
Folgen.

Im XIX. Jahrhundert erwachten auf deutschem
Boden neue Reformideen im Theaterbau sowohl
aus der erkannten Notwendigkeit, den engen
Rahmen des Hoftheaters wieder aufgeben zu
müssen, als vor allem auch aus der kräftig
empordrängenden Entwickelung der dramatischen
Musik, des Musikdramas. Den Forderungen
des Musikdramas entspricht das Guckkasten-
theater, die tiefe aus dem Zuschauerraum
herausgerückte Scene. In ihm hat das theatra-
lische Geschehen nur die Bedeutung einer Be-
gleitung der Erregungen der Musik, hat ihnen
durch Veranschaulichung eines ihnen entsprechen-
den Geschehens Halt zu geben. Die Musik
und die langsamere Vortragsweise des gesun-
genen Wortes machen die tiefe Scene auch
für Zuschauerräume größten Umfanges geeignet.
Das Publikum muß in den Musikdramen
geradezu von dem dramatischen Geschehen ge-
trennt werden, der Sammlung zur Aufnahme der
musikalischen Stimmung wegen. Der Zuschauer-
raum muß verdunkelt werden. Der „mystische
Abgrund" des versenkten Orchesters muß ihn
von der erhellten Scene trennen. Und im Zu-
schauerraum müssen alle Sitzplätze ihre Seh-

Abb. 2: SHAKESPEARES QLOBE-THEATER IN LONDON.
A : Parterre. B : Bogen. C : Galerie. D: Vorderbühne. E: Mittel-
bühne. F: Zugänge für die Schauspieler. G: Räume für die
Schauspieler. V.V.: Vorhänge. (Aus „Handbuch der Architektur",
IV. Teil. 6. Halbbd. Heft 5. Semper, „Theater". J. M. Geb-
hardts Verlag, Leipzig)1

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