Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0275
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Heinrich, Curt: Andacht zur Wirklichkeit
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ANDACHT ZUR WIRKLICHKEIT
DER MALER AUF DEM AST. OELGEMAELDE JULIUS KURZ-STUTTGART
ähnlichen Falle. Sein Verhältnis zur Kunst
ist nämlich völlig verdorben worden durch seine
Erfahrung aus dem Alltagsleben, eben durch
das, was ich vorhin das Automobiltempo der
Entwicklung nannte. Wer gestern noch bei der
Petroleumlampe saß, genießt heute schon die
letzten Raffinements der Beleuchtungsindustrie
und wer gestern seinen Zweispänner schonte,
steigt heute aus dem Automobil in den Zeppelin
um. Ganz von selbst hat sich bei vielen nun
der Kunst gegenüber ein Parallelismus des
Empfindens herausgebildet: man wundert sich
auch hier über keine neue Erfindung mehr und
sucht sie als Sensation des Tages zu genießen.
Hinzu kommt nun die zwar vielfach differenzierte,
aber weitverbreitete Furcht, in der „gesellschaft-
lichen Bildung" nicht auf der Höhe zu sein.
Gerade diese Furcht hat zusammen mit der
allgemeinen Schnelligkeitsmanier einen solchen
Grad kritikloser Neuerungssucht erzeugt, daß
es eine groteske Verdrehung der Tatsache ist,
wenn einige zwar kritische, aber auch sehr vor-
sichtige Beurteiler mit hochgezogener Stirn meinen:
denkt an Richard Wagner, wie er verkannt
wurde und an die französischen Impressionisten.
Wie haben sich da fast alle unserer Vorfahren
blamiert? Nun, damals war der Zeitgeist so,
daß er von vornherein alles, auch das Beste
ablehnte, weil es neu war, heute akzep-
tiert er zunächst auch das schlech-
teste, wenn es nur neu ist.
Das populäre Vorurteil (populär mit Be-
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DER MALER AUF DEM AST. OELGEMAELDE JULIUS KURZ-STUTTGART
ähnlichen Falle. Sein Verhältnis zur Kunst
ist nämlich völlig verdorben worden durch seine
Erfahrung aus dem Alltagsleben, eben durch
das, was ich vorhin das Automobiltempo der
Entwicklung nannte. Wer gestern noch bei der
Petroleumlampe saß, genießt heute schon die
letzten Raffinements der Beleuchtungsindustrie
und wer gestern seinen Zweispänner schonte,
steigt heute aus dem Automobil in den Zeppelin
um. Ganz von selbst hat sich bei vielen nun
der Kunst gegenüber ein Parallelismus des
Empfindens herausgebildet: man wundert sich
auch hier über keine neue Erfindung mehr und
sucht sie als Sensation des Tages zu genießen.
Hinzu kommt nun die zwar vielfach differenzierte,
aber weitverbreitete Furcht, in der „gesellschaft-
lichen Bildung" nicht auf der Höhe zu sein.
Gerade diese Furcht hat zusammen mit der
allgemeinen Schnelligkeitsmanier einen solchen
Grad kritikloser Neuerungssucht erzeugt, daß
es eine groteske Verdrehung der Tatsache ist,
wenn einige zwar kritische, aber auch sehr vor-
sichtige Beurteiler mit hochgezogener Stirn meinen:
denkt an Richard Wagner, wie er verkannt
wurde und an die französischen Impressionisten.
Wie haben sich da fast alle unserer Vorfahren
blamiert? Nun, damals war der Zeitgeist so,
daß er von vornherein alles, auch das Beste
ablehnte, weil es neu war, heute akzep-
tiert er zunächst auch das schlech-
teste, wenn es nur neu ist.
Das populäre Vorurteil (populär mit Be-
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