Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

DOI Artikel:
Erbstein, Ambros: Ost und West in der Kunst
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0353

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
OST UND WEST IN DER KUNST

Begriffe und Vorstellungen ganz in den Hinter- So bleibt die Farbe der Form untergeordnet, sie
grund, während in den andern, von den großen kann nicht zu der ihr eigentümlichen Wirkung
Handelsstraßen abseits gelegenen Gebieten, wo- gelangen, muß sich stets der Form genau an-
hin der Geist des Ostens nicht mit seiner ganzen passen, sie wird nicht verstanden, weil man sie
Kraft gedrungen war, die Kunst des Westens mit dem Verstände und nicht, wir es ihr Wesen
ihren ursprünglichen Charakter behalten hat. fordert, mit den Sinnen, mit dem Gefühle
Venedig aber, das gründlich orientalisiert war, schätzt.

ist wie in den Handelsgütern auch in den Dingen Sehen wir uns im Westen um! Schauen wir
der Kunst der Austauschpunkt zwischen Ost und auf unsere Kleider, Möbel, auf die Ornamente
West gewesen und hat immer neue Gedanken unserer Kirchen und Dome oder auf die geraden
aus Asien nach Europa gebracht; daher war Straßen unserer großen Städte! Gewahren wir da
Limoges, als es einmal mit Venedig verbunden nicht überall, daß die Form die überragende Eigen-
war, auch in Verbindung mit Konstantinopel ge- schaft aller Dinge ist, diejenige, die mit Genauig-
treten. keit und Sorgfalt ausgearbeitet wurde, und daß

Was Venedig von dem Osten nach dem Westen die Farbe, wenn sie überhaupt gebraucht ist, nur
verpflanzt hat, kann man in einem Satze sagen: als ein schmückender Zusatz und auffällig der
Es war die Anerkennung der Farbe an und für Form untergeordnet erscheint? Aber im Osten
sich als ein ausreichendes künstlerisches Ideal. blicken wir auf das Gegenteil. Dort scheinen
Die Glut und der Reichtum dei Farben allein alle Formen aus "Wachs gemacht zu sein. Die
genügen dem Osten, er schwelgt in
den Farben, sie brauchen ihm sonst
nichts zu sagen, er ist mit ihnen
allein zufrieden. Der Westen dagegen
betrachtet die Farbe als eine Eigen-
schaft der Dinge und beurteilt sie im
Zusammenhange mit den Dingen, den
sie angehören. Der Unterschied, der
hierin liegt, ist die Verschiedenheit,
die zwischen verstandesmäßiger und
sinnlicher oder gefühlsmäßiger Auf-
fassung der Kunst besteht. Ein Volk,
in dem die Verstandestätigkeit über-
wiegt, eines, dessen geistiger Trieb
vorwiegend auf das Prüfen und ge-
naue Erfassen der Dinge gerichtet
ist, ein Volk, das alles, was es sieht,
in seinem Aufbau und Inhalt, in der
Bedeutung und seinem Zwecke nach
erkennen und zerlegen will, wird in
der Kunst vor allem die Form aus-
drücken wollen. Die Form ist also
das Ergebnis der verstandesmäßigen
Beschreibung. Als im alten Griechen-
land und später zur Zeit der Re-
naissance in Italien aus einem bar-
barischen Wirrwarr eine mächtige
intellektuelle Bewegung aufstieg, ge-
langte die Form in der Kunst über-
raschend schnell zur Geltung. Doch
diese stürmische Anerkennung der
Form hatte die Vernachlässigung eines
andern großen Ausdrucksmittels zur
Folge, mit andern Worten, je mehr
ein Volk die Form liebt und pflegt,
desto mehr wird es geneigt sein, die
Farbe als eine bloße Zutat zur Form
anzusehn, sie nur als ein Unter-
scheidungsmerkmal gelten zu lassen. bueste des Komponisten hans v.zois. gustinus ambrosi-wien

299
 
Annotationen